Der rettende Engel hieß August Gaul -
Ernst Barlach und das Lockstedter Lager

  Barlach Teil 2
  1911-1926 Atelier in Guestrow HinterhofZum Jahreswechsel 1915/16 befindet sich Bildhauer Ernst Barlach im damals noch preußisch-nordschleswigschen Sonderburg. Zum „Landsturm“ eingezogen, nimmt der 46jährige „Musketier“ der 10. Korporalschaft des Infanterieregiments 85 dort seit Anfang Dezember an einer militärischen Grundausbildung teil, die ältere Jahrgänge in Front- und Etappenkandidaten sortiert. Ein Versuch seines Förderers August Gaul, eine Freistellung für die Gestaltung einer Hindenburg-Statue im Hauptquartier zu erreichen, ist gescheiter. Barlach selbst beginnt der Dienst für´s Vaterland aber zu locken. Höhepunkt: Eine Woche Kampftraining im Lockstedter Lager ...
Hindenburg selbst hat mein Soldatentum besiegelt notierte Barlach zu Neujahr 1916 in einer Mischung aus Stolz und Selbstironie (im Nachhinein ein Glücksfall: Ein von ihm verantworteter 13 m hoher Schlachtenlenker-Koloß, wie er dann vor der Siegessäule in Berlin errichtet wurde, wäre der künstlerischen Gesamtaussage später arg in die Quere gekommen). Die Einberufung fasste er jetzt endgültig als ethische Bewährungsprobe auf. So lange ich erwarten durfte, dass das Rote Kreuz meine Beurlaubung beantragen würde, hatte ich Hoffnung, aber jetzt fühle ich mich mit den tausend Rekruten an ein Schicksal geschmiedet, und wenn´s auch bitterböse Momente gibt, so werde ich mich sicher einmal freuen, wenn ich´s durchgesetzt habe. Wie man sich schämt über das, was man so geredet und gezeichnet. Und wie man zu würdigen lernt, was da draußen an Leiden geleistet wird. Denn darin sind sich alle einig. Das Dulden und Leiden ist das Größte. Das bisschen Sterben wird kaum mehr berücksichtigt. In acht bis zehn Wochen sind wir hier fertig, dann geht´s hinaus. Über Silvester saß er an Briefen, u.a. einer Postkarte nach Itzehoe (Vetter Karl, Rechtsanwalt in Neumünster war als Vizewachtmeister zum Artillerieregiment 9 eingezogen und wohnte nun am Holzkamp 2 ). Seine düster-faszinierten Schilderungen von Gewaltmärschen („Ziemlich viele Leute bleiben liegen – und so ein Mensch der krampfhaft nach Luft schnappt und den Mund entsetzlich weit aufreißt sieht schauerlich aus“) ließen Gaul weiter keine Ruhe. Tilla Durieux.jpgDie Aussicht, dass der hochbegabte Skulpteur demnächst zerfetzt in einem französischen Granattrichter verblutete, ließ ihn den direkten Dienstweg einzuschlagen - eine Eingabe an die Militärbehörden. Der Entwurf des Antrags hat sich im Nachlass erhalten. Nach der Überzeugung seiner unterzeichneten Berufsgenossen, heißt es darin, die auch von den berufensten Kunstkennern und Kunstfreunden unserer Zeit geteilt wird, ist die künstlerische und damit kulturelle Bedeutung Barlachs nicht nur für unsere Zeit, sondern kunstgeschichtlich und für alle Zeiten eine geradezu überragende, sind seine tiefempfundenen, eindrucksvollsten, im allerbesten Sinne „deutschen“ Werke den wertvollsten und höchsten an die Seite zu stellen. Da ferner Barlach bereits 46 Jahre alt und von zarter Gesundheit ist, würde seine militärische Leistung zu dem unersetzbaren Schaden, der den wertvollsten kulturellen Besitzstand durch Barlachs Verlust träfe, in allzu großem Missverhältnis stehen. Wir bitten deshalb, eine Verwendung des Barlach zu einer Tätigkeit, die sein Leben und seine Gesundheit nicht gefährdet, tunlichst ermöglichen zu wollen. Unterschrieben von sämtlichen greifbaren Berliner Kunst-Größen, u.a. den Malern Slevogt und Liebermann, zirkulierte der Revers in der nächste Woche auf den Ämtern. Barlach erhielt die Nachricht darüber am 20. Januar, Bewegung war in die Sache schon gekommen: Lieber Gaul, ich habe wegen der bevorstehenden Fahrt ins Lockstedter Lager zum Schießen alle militärischen Kleinigkeiten im Kopfe und in den Händen ich kann ihnen gerade noch einen militärischen Gruß schicken, damit sie doch wissen, dass ich ihre Botschaft bekommen habe. Ihr Schritt hängt offenbar zusammen mit der Aufforderung, einen Lebenslauf einzureichen, die ich am selben Montag auf ihrem Brief bekam.
Die Woche im Lockstedter Lager, auf den Schießständen bei Bücken und im Schierenwald, mit Graben-Gefechtsübungen und Gepäckmärschen auf der damals noch unkultivierten Heide ließ ihm wenig Ruhe, fraglich also, ob er z.B. etwas über die 1000 Finnen mitbekam, die sich in einem mit Stacheldraht isolierten Lager-Bereich zur Gründung ihres Jägerbataillons 27 sammelten. Insgesamt hielten sich im Lager ungefähr 18.000 Mann auf (115.000 Mann durchliefen in diesem Krieg pro Jahr die holsteinische „Soldatenfabrik“). Nur an Kaisers Geburtstag am 27. Januar war etwas Luft: Aus Itzehoe kam sein Vetter, er schrieb auch eine Karte nach Hause (siehe Kasten II). Ende Januar wieder in Sonderburg, schilderte er Gaul seine einzige Woche echtes Soldatenleben: Lieber Gaul, zurück vom Lockstedter Lager finde ich Ihren Brief. Nach einer Woche „Barackenleben“: Schlafen auf dem Strohsack, Zusammensein mit 33 Kameraden, sind ein warmes Zimmer und Stille rundherum eines Sonntagnachmittags wunderbare Annehmlichkeiten. Doch hat es mir in Lockstedt gefallen, wir wären alle viel lieber dort geblieben, als hierher zurückzukehren, ( ... ) Unser Hauptmann (Depotführer, d.h. Leiter des Rekrutendepots, aus dem wir demnächst heraus in die Kompanie kommen) ist Hagemann. Er hat uns heute zum zweitenmal auftragsgemäß zu verstehen gegeben, vielmehr mitgeteilt, dass, wer bei einem feindlichen Gasangriff weicht, sofort erschossen wird. (...) Ich hätte nie geglaubt, dass man in der unausgesetzten, Tag und Nacht durch, Gesellschaft von zusammengewürfelten Leuten so einsam sein kann. Ich meine im guten Sinne, ungestört, unbelästigt. Ich habe mich diese Woche hindurch sehr glücklich gefühlt, gewissermaßen. Die Kameradschaft ist eine schnurrige Sache. Man putzt, schmiert, näht, redet dazwischen oder nicht, ganz ohne Rechenschaft zu schulden über Höflichkeit oder ihr Gegenteil, es gibt keinen Zwang außer dem zum allgemeinen Besten. Wer klug ist, teilt mit andern, nicht weil er dafür geliebt wird, sondern weil es stilgerecht ist, es ist die Form des Anstands, die hier gilt, wo sonst jeder nach seinen rüpelhaften oder ordinären Gewohnheiten lebt. Prachtvoll sind die Nächte, wenn sich die seufzenden Bedürftigen von ihrem Lager hochrecken wie Auferstehende, die tausend Jahre im Grabe gelegen haben. So schlurft es fast die ganz Nacht an den Füßen der Schlafenden vorbei wie eine Mischung von Dieben und Traumgestalten. Dann steht man draußen unterm Sternenhimmel und hat, was man sich vorgenommen hat. Über den niedrigen langen Barackendächern häufen sich die Sterne, dass man erschrickt. Fast den ganzen kaiserlichen Geburtstag habe ich in der Baracke zugebracht. Da drücken sich die Siebensachen, die man im Tornister mitschleppt, auf einem Regal, von dem einem ca. 75 cm zusteht, durcheinander, Brot, Butter, Wurst, Strümpfe, etwas Wäsche sonst, Stiefelputz- und Gewehrreinigungsdinge, Nähzeug, Seife, Handtuch, Zigarren, Zahnbürste –na, kurz und gut, ich habe Aussicht, ein ordentlicher Soldat zu werden. Patrouillengehen im Stockfinstern wird wohl mein Talent sein, dafür habe ich eine Art Spürnase. Es ist der dritte Sonntagnachmittag, dass ich Sie brieflich heimsuche. Grüßen Sie Cassirer und Frau Durieux, viel Glück zur Ausstellung!
  Ernst Barlach mit FrauDer Rest der Zeit in Sonderburg war seltsamer Schwebezustand. Einerseits blieb er dem ganz normalen Kommiß ausgesetzt, andererseits mehrten sich Anzeichen, dass der schützende Einfluss von oben ihm das Los seiner Kameraden ersparen würde. Nach dem „Lager“-Test dividierte man die Ersatz-Kämpen in „k“ („kriegsverwendbar“) und „g“ („garnisonsdienstfähig“) auseinander, Barlach, zunächst „k“ , wurde – vermutlich manipuliert – dann doch zu den Heimathelden der „g“-Truppe gesteckt. August Gaul bekannte er dazu am 10. Februar gemischte Gefühle: Am Mittwoch vor acht Tagen wurde ich plötzlich zur Untersuchung befohlen, und dies neue, denke ich, ist die Folge des ärztlichen Befunds. Als ich heut auf dem großen Platz, während wir so ein bisschen Gefecht muschelten, die Kameraden vom Depot aus dem Wald brechen und in kurzen Sprüngen ihren Angriff vorwärtstreiben sah, wurde mir zwar etwas jämmerlich zumute. Aber mein Gott, man kann nicht alles erleben, und seit dem Lockstedter Lager weiß ich ziemlich genau, dass der vollbepackte Tornister mich erwürgt hätte, wenn er für die Kriegsdauer auf mich gelegt wäre. Jugendfreund Friedrich Düsel gegenüber wurde er deutlicher: Wir haben gegen den im Depot nur gelinden Dienst, aber alles, was mir rechte Freude machte: Märsche, Felddienst, Nachtübungen usw. (wir sind nämlich direkt für die Front bestimmt gewesen) fällt weg. Aber Wachtdienst und tödliche Langeweile. Griffe, rechtsum, linksum und stehen – stillstehen – warten, warten, warten. „G“-Trüppler waren zudem karg ausstaffiert, ohne Drillich, nur mit dem, was sie am Leib trugen, im Fall Barlach ein Kleid mit fettigem zerrissenen Futter, schadhaften Säumen, mit klaffenden Rissen und barbarisch geflickten und zur Not mit grobem Zwirn verkoppelten Löchern. In diesem Aufzug mit einem alten Schiessprügel demnächst ein Treibstoffdepot oder ein Bahngleis zu sichern, war nicht sein militärischer Geschmack. Wenn ich an die Front geschickt wäre, so Barlach zu Düsel, so glaube ich zwar, dass der schwere Tornister mich umgebracht hätte, aber ich hätte keinen Finger gerührt oder rühren lassen, um mich wieder zurück zufördern. Die öde Etappe dagegen hatte wenig Urerlebnis zu bieten: Schießen tun wir in der III.K. auch ein bisschen. Aber im Lockstedter Lager in der Heide – das war schön. Und als einsame Patrouille im Stockdunkeln war´s nicht anders Indianerspielen in den Ratzeburger Waldesgründen.
1929 ernst Barlach bei der Arbeit am Magdeburger EhrenmalAls in der Kaserne schließlich Meldelisten für Rüstungsbetriebe umliefen (jüngere, fronttaugliche Arbeiter sollten ersetzt werden) fühlte er sich endgültig zweckentfremdet, Rheumatismus in beiden Armen (sie hatten bei einer Übung in Eiswasser gelegen) erleichterte ihm – nach weiterer Untersuchung – zusätzlich den Abschied. Am 19. Februar hielt er seine Entlassungspapiere in Händen – die Vollzugsmeldung an Ernst Gaul geriet melancholisch: Zufällig lief ich heute abend fast allen früheren Kameraden in den Weg und konnte jedem einzeln Adjö sagen. Es ist mehr als sonderbar, so was, eine gute Menge Brüderlichkeit macht sich fühlbar und ich konnte es nicht übers Herz bringen, ihnen zu sagen, dass die Entlassung vielleicht auf immer sein würde. Ich log ihnen vor, dass es nur zeitweilig, für die Dauer einer Arbeit sein würde. Auch daheim in Güstrow wurde er sie nicht los: Ich möchte sie modellieren: Bromanns Kopf, Wurmers Augen, über denen eine Wolkenstirn lastete. In den Köpfen ist Schicksal. Ich habe noch nie solche gewaltigen Augen gesehen, soviel Trauer in den Schädelhöhlen hocken ... Hätte ich bloß Dietrichs heisere Struppigkeit nachgeschrieben...Der Mann war echt, der hätte auch im Granatfeuer heiser gespöttelt. ***
1938 Ernst BarlachIn Lockstedt wehte Kriegsluft – da bin ich als Soldat glücklich gewesen, schrieb er kurz darauf an den Philosophen Moeller van den Bruck. Nach über 4 Jahren Massensterben des I. Weltkriegs war auch er selbstverständlich ein anderer. Ohne die Hartnäckigkeit August Gauls aber hätte es all seine Hauptwerke – - Güstrows „schwebenden Engel“, Kiels „Geistkämpfer“ oder den „Fries der Lauschenden“ vermutlich nie gegeben, ebenso, – später Gruß an die Landsturm-Kameraden ohne Schutzpatron, – die Soldatenfiguren seines Magdeburger Dom-Ehrenmals von 1929. Bis in diese Dimensionen reichen insofern auch die stehengebliebenen Hohenlockstedter Kasematten.


  Kaisers Geburtstag, Lockstedter Lager, 27.1.1916 Liebe Mutter, Seit Montag wohnen wir hier in Baracken, schlafen auf dem Strohsack, 33 Mann in einer Stube, mir gefällt es sehr gut, der Dienst ist nicht schwer, nur das Wetter ist schlecht, die Straßen im Lager sind Sumpf. Abends stehe ich im Dunkeln im Schlamm bei der Pumpe und putze die Zähne, oder wasche die Stiefel, wenn ich dann zurück bin sind sie wieder voll Schmutz, es ist ein bisschen Dostojewski hier, wenn man den Blick dafür hat. Sonnabend geht´s wieder heim. Grüß Klaus  Euer Vater und Sohn
 
  Das Lockstedter Lager, in dem sich Ernst Barlach aufhielt, ist im heutigen Hohenlockstedt teilweise noch zu erkennen: große Teile der Breiten Straße mit Garnisonsverwaltung (Itzehoer Versicherung), Supermarkt-Offizierskasino, Seniorenheim- und Mietshaus- Kasernenblocks sowie den letzten erhaltenen Pferdeställen am Ortsausgang tragen noch immer unverkennbar wilhelminisches Gepräge. Auf dem Schulgelände, dem ehemaligen Lagerpark, hat sich neben der Realschule ein kleines Denkmal für Bismarck, Roon und Moltke erhalten; bis zum Abriss standen auf dem Bürstenfabrik-Gelände auch noch letzte Ruinen des riesigen Pferdestall-Komplexes herum. Von den eingeschossigen Lagerbaracken, die damals zu Dutzenden den Ortskern bildeten, sind nur noch wenige erhalten. Sie standen, in Viererreihe ausgerichtet, im wesentlichen auf dem von Finnischer Allee, Breiter Straße, Kieler Straße und Birkenallee begrenzten Areal. In baulich stark abgewandelter Form sind es das Fahrradgeschäft Timm (ehemals Küche 3) das Haus Breite Straße Nr. 16 sowie die Gebäude hin zur Ecke Finnische Allee / Birkenallee: auf der einen Seite die ehemaligen Küchen 4 und 5 (heute Treff des TSV Lola), gegenüber die ehemalige Mannschaftsbaracke 47 – etwa wie dieses Gebäude sah Ernst Barlachs Unterkunft damals aus.