SO WAR ES DAMALS /
Das berühmte Original aus Heiligenstedten (1730-1793) war bei 1,84 Meter Bauchumfang 1,89 Meter groß

 

Richard Wagners gefräßiges Vorbild: Paul Butterbrodt

  Er war wegen seiner Leibesfülle in ganz Deutschland als der Inbegriff des Freßsacks bekannt: Paul Butterbrodt aus Heiligenstedten. Er war Gastwirt – auf den Ort, wo sein Haus mit Schankwirtschaft stand, weist heute der Gedenkstein vor dem Haus Hauptstraße 25 hin – und Jahrmarktssensation. Noch in den 50er Jahren prangte Butterbrodts Seitenansicht auf einer Gewichtstabelle für „Vencipon“ – Schlankheitsdragees – zur Abschreckung.

Schon als Kleinkind hatte Richard Wagner einen gesunden Appetit. Der Dreijährige unternahm so regelmäßige Ausflüge in die Speisekammer, daß sein Stiefvater Ludwig Geiger sich diese Angewohnheit schließlich scherzhaft zusammenreimte:

Mit Richard, glaub` ich, hat`s auch keine Noth,
der wird ein zweiter Paul Butterbrodt,
der geht seinen Weg so ganz im Stillen,
und sucht sich immer den Magen zu füllen.
Ein guter Fresskünstler ist auch nicht dumm,
er findet nicht minder sein Publikum.


  1816, als der minderjährige Opernkomponist dies von seinem Leipziger Hausvater nachgesagt bekam, lag sein gefräßiges Vorbild Butterbrodt schon 23 Jahre auf dem Heiligenstedtener Friedhof. Sein Nachruhm in ganz Deutschland war aber, wie man sieht, noch gut erhalten. Denn auch in einem Theaterstück aus dieser Zeit, dem damals vielgespielten Lustspiel „Die deutschen Kleinstädter“ von dem später so spektakulär von Burschenschafter Sand ermordeten August v. Kotzebue erinnert eine kurze Anspielung an den legendären Nimmersatt.

Ich will essen wie der berühmte Butterbrodt


In der zweiten Szene des vierten Aktes beschwert sich Sabine, die Tochter des Bürgermeisters, bei ihrem Bräutigam Olbers, dass er sich so wenig um Sitten und Gebräuche ihrer Heimatstadt Krähwinkel schere und vor allem beim vorangegangenen Festessen zu wählerisch und zu wenig gegessen habe.
Worauf ihr der Bräutigam verspricht, sich zu bessern: „Gut, ich will essen wie der berühmte Butterbrodt.“
Als Inbegriff des Fresssacks berühmt gemacht hatten den Brauer und Schankwirt eine, eventuell auch mehrere Tourneen, auf denen er seine Leibesfülle in Wirtshäusern und auf Jahrmärkten für Geld sehen ließ.
Was die Neugier auf körperliche Abnormitäten und Gebrechen angeht, waren unsere Altvorderen ja bekanntlich sehr viel ungenierter. Es ging zwar nicht mehr zu wie im Mittelalter, wo – nachzulesen bei Heinrich von Kleist – auf einem Reichstag Kaiser Maximilians zur Unterhaltung des Hochadels zwölf Blinde in vollem Harnisch ein angepflocktes Schwein finden und totschlagen mußten. Doch Aufgeschwemmtheit, ungewöhnliche Verwachsungen oder wallende Damenbärte sicherten immer noch ein festes Einkommen; oft genug waren sie deshalb auch nicht echt.
  Butterbrodt jedoch hatte wirklich an sich gearbeitet und bot daher solide Unterhaltung. Zudem kam er aus einer robusten Familie; viele seiner Ahnen waren uralt, einer gar 100 Jahre alt geworden.
Hieb- und stichfeste Dokumente seines Lebens sind allerdings rar. Erhalten sind einige Kaufverträge, außerdem natürlich die Eintragungen in Kirchenregistern über Geburt, Hochzeit, Kindstaufen und Beerdigung.
Dem Taufregister zufolge hat „anno 1730 den 18. April“ Butterbrodts Vater Michael Butterbrodt „seinen Sohn von G.P. Decker im Hause taufen lassen, das Kind genannt Johann Paul“.
Geheiratet hat der „ehr- und achtbare Gesell“ dann „anno 1753 dem 27ten Septembris“ in Brokrege und zwar die „ehr- und tugendsame Jungfer Anna Abel Köhlers, eines Grützmachers, und dessen Ehefrauen Margaretha eheleibliche Tochter“.
Vorher hatte der Bräutigam „seiner Mutter Bruder, Mars Jungen, sein Haus abgekauft und bezogen“. Anfangs groß und schlank, wurde er, vermutlich, bevor seine endgültige Ausstattung beisammen war, auch fünfmal Vater. Ein Junge und ein Mädchen starben jedoch schon als Säuglinge; damals alles andere als ungewöhnlich.
Mit der Zeit kam er dann immer mehr aus sich heraus. Lange Zeit wurde in Heiligenstedten noch der Stein gezeigt, auf dem er bei seinen häufigen Zwischenmahlzeiten saß.
Butterbrodt galt als schlagfertig, aber gutmütig. Die bekannteste Anekdote über ihn verewigt das „Heimatbuch des Kreises Steinburg“ von 1925:
Paul Butterbrodt trank gern ein Glas Branntwein, wobei er wohl auch das für seine Verhältnisse richtige Maß nicht immer innehielt. Darüber war der Pastor in Heiligenstedten oft recht ungehalten, da er das Trinken nicht leiden mochte, sonst aber ein guter Freund des Dicken war. Da er nun wußte, dass es für ihn schädlich sei, sagte er eines Tages zu ihm: „Hör`n Se mal, Bodderbrod, dat wär doch bäter, wenn Se dat Snapsdrinken loten dä`n. Se dod mi`n groten Gefallen dormit, wenn Se mi versprekt, den Branntwin to laten .“Darauf antwortete jener ganz treuherzig: „Ik kann dat don, ik kann dat ok laten! Ja, ik will`t laten, Herr Pastor!“ worüber der Prediger hocherfreut war. Nach einiger Zeit jedoch erfuhr er, dass Butterbrodt sich in keiner Weise geändert habe und nach wie vor seinen Schnaps trinke, oft auch über den Durst, worüber ihm der Pastor heftige Vorwürfe machte.
Butterbrodt aber entgegnete kurz und ruhig:„ Herr Pastor, ik heff seggt, ik kann dat don, ik kann dat ok laten. Un ik heff dat laten!“ Und dabei schlug er mit der Hand auf seinen dicken Bauch, in dem er in der Tat den Branntwein gelassen hatte
.
Wie Butterbrodt dann auf seine Nebenerwerbsquelle als Jahrmarktssensation verfiel, ist nicht bekannt. Nebenbei war er aber nicht nur Gastwirt, sondern handelte auch mit Vieh, kam also auf den Märkten der Umgebung herum. Das Staunen, das seine Gestalt dort hervorrief wie auch die Verdienstmöglichkeiten, die er bei den dortigen Attraktionen sah, werden den Entschluß begünstigt haben, der ihn zu einer Hörensagen-Berühmtheit in ganz Deutschland machte.

Die einzigen Dokumente dieser Schaustellertätigkeit sind jene Kupferstiche, die bei seinem Aufenthalt in Paris entstanden: Seine recht bekannte, heute noch u.a. als Branntweinetikett benutzte und auch im Schleswiger Landesmuseum als farbiges Plakat erhältliche Vorderansicht, und ein nicht so bekanntes Ganzkörperprofil. Die Vorderansicht vermerkt auch Butterbrodts persönliche Daten:
Paul Butterbrodt aus Heiligenstedten in Holstein hat gewogen den 30. April 1786 in Paris 476 Pfund, ist 56 Jahre alt, 5 Fuß 10 Zoll französisch Maß hoch und 5 Fuß 8 Zoll im Umfange.
Er war also bei einem Bauchumfang von 1,84 m etwa 1,89 m groß. Was Butterbrodt dazu brachte, sich drei Jahre vor der französischen Revolution, im Todesjahr Friedrich des Großen, in eine Kutsche zu zwängen und durch gut zwei Dutzend deutsche Fürstentümer nach Paris zu reisen, ist nicht überliefert. Vermutlich wird sein Reiseziel aber damit zusammenhängen, daß sein Gebieter, der Schlossherr von Heiligenstedten, Graf Otto von Blome, dänischer Gesandter am Hof von Versailles war. (Und es Dank seines diplomatischen Geschicks auch über die drei Jahre spätere französische Revolution hinaus blieb).

Auf Tablett dem König präsentiert

Dank seines wuchtigen Untertanen soll der Graf bei einem Festessen auch die Wette mit dem König von Frankreich gewonnen haben, wer wohl das größte Butterbrot herbeischaffen lassen könne – und dann Butterbrodt von auf einem von zwölf Dienern herbeigeschleppten Tablett präsentiert haben.
Sicherer als solche Anekdoten ist, daß Butterbrodt durch seinen für Pariser Hofdamen doch recht ausgefallenen Aufzug auffiel – eben jener Tracht, die damals die männliche Landbevölkerung in der Wilstermarsch trug: Zum roten Hemd, dessen Halsrevers sowie Ärmelabsätze und Manschetten sich hellblau abhoben, trug Butterbrodt ein weißes Halstuch. Die gelb-weiße, mit roten Taschenstreifen und Silberknöpfen verzierte Wildlederhose wurde von zwei schwarzweißen, sich vor der Brust kreuzenden Hosenträgern gehalten und steckte in langschäftigen schwarzen Stiefeln mit umgeschlagener Krempe. In der Hand hält er seinen schwarzen Federhut. Die Reise nach Frankreich hat Butterbrodt noch um sechs Jahre überlebt. Für den Dezember 1793 verzeichnet das Heiligenstedtener Sterberegister:
Gestorben am 4., beerdigt am 7. December 1793: Johann Paul Butterbrodt, ehemaliger Brauer und Branntweinbrenner in Heiligenstedten. Er gab seiner ältesten Tochter, die sich an Helmer Stange vor mehreren Jahren, nehmlich 1781, verheirathete, die Haushaltung und hielt sich bey seinen Kindern auf. Sein bekanntlich schwerer Körper verlohr in den letzten Jahren allmählich die Bewegungskraft. Eine Krankheit von wenigen Tagen mit Husten und Entzündung der Brust beschleunigte sein Ende. Er hinterließ eine Ehefrau Anna Abel, geborene Köhlers und 3 Kinder als Margretha, an Helmer Stange hieselbst, und Trina, an Johann Frauen in der Hoern bey Hodorf verheiratet und Anna Abel, welche noch ledig war. Er starb, seines Alters 63 Jahre.
 

Totenbahre musste angefertigt werden

Auf dem Dachboden, der Heiligenstedtener Kirche wird noch die Totenbahre mit den überlangen Trageholmen verwahrt, die angefertigt werden mußte, um den Sarg mit dem zum Schluß bettlägerigen Koloß zum Friedhof zu bringen. Sarg und Bahre waren auch nicht auf natürlichem Wege durch die Zimmer-und Haustüren zu bringen, so daß man erst ein Fenster ausbrechen musste, damit Butterbrodt bestattet werden konnte.
  Nachkommen von ihm lebten hier noch bis in unsere Tage, bis in die 50er Jahre, z. B. hat in Glückstadt die Schmiedewerkstatt Butterbrodt bestanden, ein anderer seiner Nachfahren betrieb in Wilhelm Buschs Geburtsort Wiedensahl den Dorfkrämerladen und verwahrte dort auch den Schlüssel zu Buschs Geburtshaus.

Für Wirtshausgäste „zur Nacheiferung“

Butterbrodt selbst lebte auf unzähligen Bildern fort, die teils ähnlich, teils völlige Phantasieprodukte, überall in Deutschland „zur Nacheiferung für die Gäste in den Wirtshäusern hingen“, wie es in einer alten Chronik treuherzig heißt.
Um sein Andenken haben sich auch zwei Nachkommen Butterbrodts verdient gemacht. Zunächst der älteren Steinburgern noch bekannte Heimatdichter Geerd Spanjer. Er schrieb 1955 für die Weihnachtsbeilage der „ Rundschau“ eine Erzählung, in der sich der alte Butterbrodt an seinem letzten Weihnachtsfest an seinen Aufenthalt in Paris und insbesondere an eine kurze, schicksalhafte Begegnung mit dem jungen, noch unbekannten Napolèon erinnert (völlige dichterische Freiheit; in Wirklichkeit hatte Butterbrodt zu solchen Überlegungen keinen Anlaß, denn Napolèon war auch ein Jahr vor Butterbrodts Tod noch völlig unbekannt; seine steile Karriere begann erst drei Jahre später).
Noch gründlicher hat sich die Hamburger Ahnenforscherin Nicoline Still um ihn gekümmert. Sie verfolgte nicht nur seinen Stammbaum bis ins Mittelalter zurück und korrespondierte mit allen noch lebenden Abkömmlingen, sondern fand 1933 auch das bekannte Butterbrodt-Bild, noch im Original- Rahmen, auf dem Dachboden einer Heiligenstedtener Gaststätte und erwarb es für fünf Reichsmark. Dies Original, nach dem Postkarten und andere Reproduktionen hergestellt wurden, hing mit einem anderen Butterbrodt-Bild, das Frau Still im alten Grimmer „Bürgerhaus“ in Hamburg entdeckt hatte, in ihrem Wohnzimmer an der Wand. Bei den Bombenangriffen auf Hamburg am 24. und 25. Juli 1943 sind dann beide Bilder zusammen mit ihrem übrigen Hausrat verbrannt.