Sie waren so etwas wie die Hippies der ersten Stunde: Lange vor der Studentenbewegung in dem 60er Jahren suchte eine Handvoll junger Menschen in der Wilstermarsch das Leben in Freiheit und fernab von bürgerlichen Strukturen. Die Klever Landkommune war ein revolutionäres Experiment, das wenige Monate währte und dennoch seine Spuren hinterlassen hat.
 

Klever Landkommune — revolutionäres Experiment

  Mein Glücksgefühl erreichte seinen Höhepunkt, als ich mit meinem Schimmel und dem grün-gestrichenen Bretterwagen vor der Großen Paaschburg erschien, um die Siedlungsgenossen und den Hausrat abzuholen. Es hatte zwar seine Schwierigkeiten, in den engen Straßen den unbeholfenen Wagen zu drehen, und ich mußte einen kleinen Menschenauflauf und einige Verkehrsstockungen mit in Kauf nehmen, als ich versehentlich mit den Hinterrädern auf den Bürgersteig geraten war, aber es ging schließlich doch und ich knallte, um meine Ankunft anzumelden, so heftig mit der Peitsche, dass mir der sonst so brave Schimmel beinahe davongelaufen wäre.

Der sich hier rückblickend holprigen Manövrierens durch die Itzehoer Innenstadt entsann, war ein Neuzugang auf dem Kutschbock: Max Schulze-Sölde aus Hamm, Sohn des höchsten Generalstaatsanwalts Westfalens, abgebrochener Gerichtsreferendar und Kunstmaler, bugsierte diese Fuhre denn auch passenderweise am 1. April 1920 durch Itzehoe. Außerdem handelte es sich um keinen normalen Möbeltransport, sondern den Beginn eines - zumindest nach Meinung der Beteiligten - höchst ehrgeizigen sozialen Experiments: fünf Personen machten sich vor genau 85 Jahren von der Paaschburg in die Wilster Marsch auf, um ein revolutionäres Fanal zu entfachen: Neben Schulze-Sölde der Schriftsteller und Lebensreformer Dr. Hugo Hertwig, dessen Cousine Maria Reps, Kaufmannstochter aus Hamburg, der Breslauer Pianistensohn und Bildhauer Johannes Ilmari Auerbach und die ihrer Familie und einer streng klösterlichen Erziehung in die Bohème entlaufene Gräfin Katharina "Käthe" Sweerts- Spork, die von Hugo Hertwig ein Kind erwartete.
 
  Ziel war der Lindenhof, eine »Kate von 6 Fach im Umlauf mit Scheune" am Rand von Kleve. Hertwig hatte es über Verbindungen nach Itzehoe, die von seiner kurzen Tätigkeit 1914 in der Schreibstube der Kaiserstraßen-Kasernen herrührten, vermittelt bekommen; Schulze-Sölde hatte den Großteil des Kaufpreises, 60000 Mark, aus seinem im voraus ausbezahlten Erbteil beglichen. Die restlichen 20000 Mark sollte allmählich die Bewirtschaftung abwerfen. Doch schon beim Aufbruch kam es laut Schulze Sölde de zu ideologischen Differenzen:

"Das Gerümpel wurde aufgeladen, und ich merkte zu meinem Staunen, dass Hertwig seine ganze Bücherei in den Wagen schleppte. Verwundert stellte ich ihn darauf zur Rede: Ich sei bisher in dem Glauben gewesen, wir würden nun alle Theorie und Bücherweisheit zu Hause lassen und mit dem frisch-fromm-fröhlichen Tun beginnen. Ob es nicht besser sei, diese Bücher zu verkaufen und das Geld der Siedlung zuzuführen? Er selbst habe doch immer am heftigsten die Notwendigkeit verfochten, daß das, was in den Büchern stünde, nun endlich einmal gelebt werden müsse. Sie seien also nur noch unnötiger Ballast, und den müsse man, wie er ja selbst immer predige, hinter sich lassen. „Das hast Du in deiner Trottelhaftigkeit mal wieder missverstanden, lieber Max" schnauzte er mich an, aber er konnte nicht verhindern, dass ich hinter seinem Gebrüll seine Verlegenheit bemerkte. Noch eine andere Enttäuschung wartete meiner : Lina Volquardsen, auf die ich am meisten gerechnet hatte, erklärte, daß sie nicht mitkommen werde, dass sie niemals mit uns zusammen siedeln werde, solange Käthe dabei sei. „Ha, ha! Eifersucht!" dachte ich. Wo bleibt da die Theorie? Mit derart veralteten Gefühlen wollten wir uns doch überhaupt nicht mehr aufhalten. Wir hatten doch als getreue Jünger des Meister Hugo ,,Jenseits aller Sentimentalitäten" zu stehen. Und nun Begann die Geschichte sogleich mit dem Menschlichen, Allzumenschlichen.

Mit Marx, Lenin, KPD, Sowjetrepublik und Novemberrevolution hatte das Quintett allerdings nur bedingt etwas im Sinn. Zusammengetroffen war es einige Zeit zuvor in einen exquisiten Umfeld: Beim Hagener Bankierssohn und Folkwang-Großmäzen Karl Ernst Osthaus, bzw. im Pförtnerhaus seiner Künstler-Kolonie Hohenhof, bei Mutter Spier, wo die "Hagener Bohème" bei Malzkaffee und Reibekuchen tagte. Im Bannkreis des Naturheilers "Vater Jezek" und des Folkwang-Chef-Ideologen, „Biosophen" und Allround-Doktrinärs Ernst Fuhrmann hatten Hertwig und Schulze-Sölde den Kommune-Plan ausgetüftelt. Der neben Marx, Nietzsche und den kosmo-biologischen Weltorganismus-Theoremen Fuhrmanns vor allem ihrer Ansicht Rechnung trug, die Arbeiterparteien seien gescheitert und nur eine konsequente Umsiedlung des städtischen Proletariats auf ländliche Selbstversorgungs-Parzellen könne den von den Folgen des I. Weltkriegs zerrütteten Verhältnissen wieder aufhelfen. Dazu müsse die trägen Massen das beherzte Beispiel animieren. Entsprechend plakativ gestalteten sie in den nächsten Wochen ihre Klever Behausung um, teilten sich das Gebäude mit primitiven Bretterwänden in Wohnzellen ein und während Gräfin Sweerts-Spork sich die karge Klause mit Utensilien ihrer Aussteuer drapierte, bepinselte Schulze-Sölde Mauern, Türen, Giebel und Fenster mit expressionistischen, tanzenden Skelettwesen und Phantasiegestalten. Hertwig quartierte seine Bibliothek im größten Zimmer des Hauses ein, Bildhauer Auerbach stemmte sich ein kreisrundes Loch in die Wand der Scheune - als Einstieg in sein dort angelegtes Wohnatelier. Weil ihr Landgang eher symbolisch zu verstehen war, ließen die 16-Morgen-Kätner die Agrarproduktion dann gemächlicher angehen - abgesehen von Schulze-Sölde, der zur Vorbereitung ein Vierteljahr lang auf einem Bauernhof hospitiert hatte, verfügten sie auch über keinerlei praktische landwirtschaftliche Kenntnisse. Beobachtungen der staunenden Landbevölkerung aus diesen Tagen fasste ein Artikel der "Itzehoer Nachrichten" einige Monate zusammen:

Den Hühnern wurden bald nicht mehr die Flügel beschnitten, und sie erinnerten sich bald daran, dass sie Vögel waren und begannen auf die Bäume zu fliegen, dort die Nächte zu verbringen und die Eier im Garten zu verstecken. Den neugeborenen Kälbern wurde nicht - wie allgemein üblich - die Milch ihrer Mütter weggenommen. Niemand mochte ihnen diese kostbare Nahrung verweigern. Anfangs, als es einen schlimmen Regenguß gab, wurde einer Kuh, die sich draußen befand, aus Mitleid einfach das große Ölgemälde eines Malers zum Schutz übergelegt.

Statt zu misten und zu mähen machte man es sich auf dem Lindenhof abends lieber gemütlich: Hugo Hertwig las aus dem finnischen National Epos „Kalewala" vor, anschließend wälzte man Pläne einer gemeinsamen Übersiedlung nach Island. Schulze-Sölde: Es lag überhaupt über dem Hof eine große Sehnsucht, die Sehnsucht junger Menschen. Auch die Natur ringsum wurde zum Märchen. In Mondschein und Nebel verwandelte sich alles. Mondscheinspaziergänge waren beliebt und das Wandern zu Fuß ans Meer durch die Marsch.
   
 

Ein bewegtes Leben zwischen Christentum und Anarchismus

   
  Das Folkwang-Museum in Hagen gründete der Bankierssohn und Kunsthistoriker Karl Ernst Osthaus 1902. Benannt nach "Volkshalle" der Germanen-Göttin Freya, stellte er dort seine in Jahrzehnten zusammengetragene Bilder-Sammlung aus und ließ sich die Bauten dafür und eine Künstler-Kolonie von Architekten wie Peter Behrens und Henry van de Velde entwerfen. Seine vielfältige Förderung gab so wichtige Impulse für Kunst- und Design-Entwicklung, dass "der Hagener Impuls" kunstgeschichtlich als Bindeglied zwischen Jugendstil und Bauhaus gewertet wird. Osthaus starb 1921; durch eine Geheim-Absprache zwischen Folkwang-Testamentsvollstrecker Ernst Fuhrmann, Essens Bürgermeister Dr. Luther (später Reichskanzler) und dem Rheinischen Kohlensyndikat wurde die Stadt Hagen vom Erwerb ausgeschlossen und die Sammlung nach Essen verkauft, wo sich die Folkwang-Museum und Hochschule jetzt befinden. Das "Himmelszeichen im westlichen Deutschland" (Emil Nolde) in Hagen ist heute nach seinem Gründer benannt.
   
  Max Schulze Sölde — Maler und Revolutions-Apostel, 1887 geboren — wächst als Sohn eines Generalstaatsanwalts in Hamm auf. Sein Jura-Studiun bricht er ab, um Maler zu werden. Der Ausbruch des 1. Weltkriegs überrascht ihn auf Korsika, wo er bis Kriegsende interniert bleibt. Heimgekehrt, erlebt er den Zusammenbruch des Kaiserreichs als "Erlösung". In Hagen, beim "Folkwang"-Mäzen Karl Ernst Osthaus (der ihn nach einer erfolgreichen Ausstellung bei Kunsthändler Alfred Flechtheim fördert) lernt er Kommune-Gründer Hertwig kennen. Nach seiner 4-Monats Episode in der Wilstermarsch fährt er als Schlepper in Schacht drei der Zeche Westende bei Meiderich ein, um Bergarbeiter für seine Mischung aus Christentum und Anarchismus zu agitieren. Einerseits arbeitet er dabei mit den Anarcho-Syndikalisten zusammen, andererseits zeigt ein Gemälde von ihm aus dieser Zeit einen Arbeiter-Demonstrationen segnenden Christus. In dem Arbeitermädchen Franziska Krischer erblickt er bald darauf die "Madonna", in sich selbst den wiedergeborenen Johannes den Täufer. Als ein von ihm angezettelter Bergarbeiterstreik schon nach ein paar Tagen scheitert, wendet er sich enttäuscht vom Proletariat ab und malt es jetzt als gemeinen Pöbel, der den Gekreuzigten verhöhnt.
  Bis Anfang der 30er Jahre ist er in abgerissener Propheten-Kluft in ganz Deutschland unterwegs, schreibt sein Erinnerungsbuch "Ein Mensch dieser Zeit" (das mit seiner Bekehrung Ostern 1930 endet) und predigt als Gastredner auf Jugendtreffen und Versammlungen die "völkische Jesus Revolution". Weiter schlägt er sich als Zeichenlehrer im thüringischen Landschulheim Haubinda durch, als die Ehe mit Franziska Krischer scheitert, siedelt er in die Vegetarier-Kolonie Eden bei Berlin über, wo er den "Orden vom Sonnenkreuz" gründet. In der NS-Zeit kehrt er in seine westfälische Heimat zurück, um fortan nur noch als Maler zu arbeiten. In Soest ist er 1967 verstorben — in den letzten Jahren ein Pflegefall, der Zeichnungen zerriss, um daraus Papierschiffchen für Kinder zu bauen.