Sie waren so etwas wie die Hippies der ersten Stunde: Lange vor der Studentenbewegung in den 60er Jahren suchte eine Handvoll junger Menschen in der Wilstermarsch das Leben in Freiheit und fernab von bürgerlichen Strukturen. Die Klever Landkommune war ein revolutionäres Experiment, das nur wenige Monate währte und dennoch seine Spuren hinterlassen hat.
 

Zwischen den Kühen liefen nackte Revolutionäre

  Um das Projekt pädagogisch abzurunden, legte man sich noch einen weiteren Hausgenossen zu: aus dem Itzehoer Waisenhaus wurde der zwei bis drei Jahre alte Rudolf Lange geholt, um ihn nach revolutionären Grundsätzen zu erziehen. Der Kleine tobte allerdings derart wild und zerstörerisch durch die Räume, dass den Kommunarden - nach einigen vergeblichen Bemühungen der gelernten Kinderpflegerin Gräfin Käthe - den kleinen Unruhestifter den Sommer über mit einer Laufleine an einer der Linden vertäuten, von wo aus er nun häufig unvermutet mit Steinen um sich warf.

Zu der Erziehungs-Misere kam rasch eine finanzielle, Chef-Ideologe Herwig schien damit allerdings eine kühne Theorie zu erproben. Schulze-Sölde: "Besorgt machte ich Hertwig auf unser rasend dahinschwindendes Betriebskapital aufmerksam. Er lachte und meinte: "Immer umsetzen, immer umsetzen, je schneller und angstloser wir die alten Mittel verbrauchen, um so schneller werden neue uns zufließen."

Für die Landwirtschaft blieb dabei nicht viel übrig, sie hielt sich bescheiden im Hintergrund und begnügte sich mit dem Ankauf von etwas Saatgut und ein paar Obstbäumchen. Den Rest verschlangen die immer mehr anwachsenden Ausgaben für die Lebensmittel. Der arme Hof hatte ja nicht nur uns zu versorgen - es kamen sehr bald Gäste, immer mehr Gäste.

Denn mochten die fünf Neu-Klever innerhalb ihrer nächsten Umgebung auch isoliert sein - innerhalb ihres Milieus waren sie dies keineswegs. Seit den Tagen Kaiser Wilhelms hatte sich in Deutschland neben der Arbeiterbewegung eine weitverzweigte Subkultur von Lebensreformern, Utopisten und Welterlösungs-Gurus mit treuem Anhang gebildet, deren Reservate, Stützpunkte und Anlaufstellen sich über das ganze Reichsgebiet verteilten (und als deren letzte Quasi-Relikte bis heute die Reformhäuser und FKK-Vereine existieren). Der Münchner Zeitgeschichtler Ulrich Linse legte Anfang der 8oer Jahre zwei beeindruckende Studien vor, die materialreich dokumentieren, dass neben dem Lindenhof zur gleichen Zeit diverse andere Landkommunen buntscheckigster Gesinnung existierten: die anarcho-religiöse Siedlung Sannerz beim hessischen Schlüchtern, die Frauen-Siedlung "Schwarzerden" bei Darmstadt, die pazifistische Quäker-Siedlung "Neue Sonnenfelder Jugend" bei Coburg, rund um Hameln bereiteten sich junge deutsche Zionisten im Trainings-Kibbuz Cheruth auf ihre Übersiedlung nach Palästina vor. Auch als kommunistisch verstanden sich die Siedlung Blankenburg bei Donauwörth und der "Barkenhoff" ; einstmals Fluchtburg Rilkes und der Schöngeister von Worpswede, nun von seinem Besitzer, Jugendstil-Maler Heinrich Vogeler, ebenfalls zu einer Kollektiv-Genossenschaft umfunktioniert. All diese Vorposten hatten einen ständigen Strom von Revolutionsjüngern zu bewältigen, auch in Kleve kampierten zeitweilig dutzende Jugendbewegte auf dem Heuboden und spazierten als naturverbundene Sonnenanbeter zur Freude der Klever Bauern manchmal auch einfach nackt zwischen den Kühen herum.
  Vom Barkenhoff schickte Vogeler einen "Original-Proletarier", aus Blankenburg wechselte die Gärtnerin Hilde Jäger zeitweilig in die Wilstermarsch, die sich als erstes den kleinen Rudolf schnappte, und ihn, "um ihn abzuhärten", in eine Kiste voll Heu steckte. Zeittypisch auch der metaphysische Wanderbursche, der eines Tages vor Max Schulze-Sölde stand: Mit seinem kahlen, von der Sonne verbrannten Schädel, mit seinen samtartigen dunklen Augen, mit seinem merkwürdig kurzgeschnittene verblichenen Manchesterwams, mit seinem braunen Brotbeutel und seinen nackten in Sandalen steckenden Füßen sah er aus wie ein buddhistischer Mönch. Bei Tisch zog er sein eigenes Brot und ein paar Früchte aus seinem Beutel und lehnte dankend die ihm angebotenen Speise ab, weil er wohl durchschaute, wie knapp es bei uns war.
  Pegu, so nannte er sich, war einer der längst bei der Heimatlosigkeit angekommen war und der sein ganzes Hab und Gut in seinem Brotbeutel stecken hatte.

Auf langen Spaziergängen durch die Marsch erläuterte "Pegu" Schulze-Sölde, dass er den Weg zu gehen suche, den Buddha lehrt und verehrte ihm ein paar lose Blätter mit Laotse-Sprüchen. Zum Glück besann er sich später anders; noch 1985 stöberte der Hagener Heimat-Geschichtler Werner Gerber ihn wieder auf: "Pegu"-Paul Guttfeld, Sohn eines jüdischen Berliner Fabrikanten, war einige Jahre später nach Palästina ausgewandert und mit inzwischen 95 Jahren in seinem Kibbuz immer noch wohlauf. Für Hilde Jäger aber blieb Kleve keine Durchgangsstation.

Schulze-Sölde: Als wir am Abend um den Küchentisch versammelt waren, zeigte Hilde Jäger nicht übel Lust, bei uns zu bleiben und überlegte hin und her, wie sie wohl zu Gelde kommen könne. Hertwig schlug ihr lachend vor, sie solle ihre Leiche im voraus an irgendeine Anatomie verkaufen. Das sollten wir überhaupt alle tun, denn das gäbe bei sechs Personen ein ganz schönes Sümmchen, und es könnte uns ja gleichgültig sein, was sie nach unserem Tode mit unseren Knochen anstellen würden. Oder sie solle es machen wie Käthe und ihren reichen Eltern durch eine Scheinheirat die Mitgift entlocken. Hilde Jäger hörte sich alles mit todernstem Gesichte an und versank über Hertwigs Vorschlägen in tiefes Brüten. Wir achten aber nicht weiter darauf und rechneten uns unterdessen unter fröhlichem Gelächter aus, wie viel wir wohl für unsere Leichen bekommen würden. Am anderen Morgen stand ich mit Johannes und Maria bei der Arbeit auf dem Felde. Da kam auf einmal Hilde Jäger auf mich zu, nahm mich geheimnisvoll beiseite und bat mich, sie müsse dringend mit mir sprechen. Wir schritten schweigend auf dem sandigen Feldwege nebeneinander her und ich dachte: "Was hat sie nur?" Da blieb sie plötzlich vor mir stehen und sagte mit rauher Stimme: "Ich wollte Sie fragen, ob Sie bereit sind mich zu heiraten?"
Einen Augenblick war ich ganz verdutzt , dann aber brach ich in ein so herzhaftes Lachen aus, dass mir die Tränen die Backen herunterliefen. Sie wurde davon angesteckt und lachte gutmütig mit, setzte dann aber sogleich wieder eine ernsthafte Miene auf und erklärte mir, dass es wegen der Mitgift sei, und dass doch zwischen uns alles so sehr schöne passen würde, weil ja doch ihr Papa so etwas ähnliches sei wie der meinige. Wir könnten uns natürlich sogleich wieder scheiden lassen. Ich hatte die größte Mühe, ihr den tollen Plan wieder auszutreiben und erklärte ihr schließlich kurz und bündig, ich sei nicht gewillt, diesen meinen letzten Trumpf so leichtsinnig aus der Hand zu geben.

Unser Bankkonto neigt sich seinem Ende zu. Die Mittel, von denen Hertwig phantasiert hatte, blieben aus schilderte Maler Max Schulze-Sölde 10 Jahre später in seinem Erinnerungs-Buch („Ein Mensch dieser Zeit") das nun beginnende Beratschlagen. Unter der Regie des Kommune Ideologen Hugo Hertwig, von Schulze-Sölde als grenzenloser Egomane charakterisiert, dümpelte die Diskussion bald im rechtsfreien Raum. "Das liegt an euren Hemmungen", meinte er, als wir wieder einmal im Kreise versammelt saßen. „Ihr steht eben immer noch nicht jenseits von Gut und Böse. Wir haben ein Anrecht darauf, uns das zu nehmen, was wir brauchen, weil unsere Siedlung ja doch nicht Selbstzweck ist, sondern für die Allgemeinheit den Weg bahnen soll zu etwas neuem. Wer hindert euch denn, euch nachts von den reichen Bauern das zu holen, was ihr nötig habt?" Daraufhin will Schulze- Sölde seinem Vordenker erstmals die Gefolgschaft verweigert und unter Verwünschungen den Raum verlassen haben. Bei Johannes Auerbach sei der amoralische Appell dagegen angekommen: Der spannte noch in derselben Nacht den Schimmel vor den Wagen und holte sich in einem benachbarten Barackenlager einen ganzen Haufen "Rohmaterial" für seinen Schweinestall. Er wollte sich totlachen, als ihm der Wächter am nächsten Morgen erzählte, es seien doch tolle Zeiten, jetzt kämen die Diebe sogar mit Pferd und Wagen herangefahren, um zu stehlen.
Kühn gemacht durch diesen wohlgelungenen Handstreich und in dem ehrgeizigen Bestreben, mich bei Hertwig auszustechen, brachte er es sogar fertig, bei hellichtem Tage nach Itzehoe zu fahren, vor einem Neubau zu halten und seelenruhig Ziegelsteine aufzuladen. Der Maurerpolier war erschienen und hatte erstaunt nach der Bedeutung dieses Tuns und nach einer schriftlichen Bescheinigung gefragt. Darauf Johannes, alle seine Taschen durchsuchend, er sei doch bestellt, dummerweise habe er den Ausweis zuhause liegen gelassen. Dann müsse er wieder abladen, hatte der Polier erwidert, und Johannes, der wohl fühlte, dass nun die Grenze der Frechheit erreicht war, hatte mit der harmlosesten Miene wieder abgeladen und war unbehelligt von dannen gezogen.
Schulze-Sölde ließ diese Entwicklung nur ein Fazit: Der ganze Kleve-Bombast sollte gar nicht die Arbeiterklasse aufrütteln, sondern letztlich nur für Hugo Hertwig die Werbetrommel rühren: als neue Leitfigur für die links-alternative Polit-Szene der frühen Weimarer Republik. Vorerst verwandelte der durch seine suggestive Persönlichkeit aber nur sein Sozial-Labor Lindenhof in einen Hexenkessel: Gräfin Käthe Sweerts-Spork erwartete bereits ein Kind von Hertwig, als man in Kleve zuzog. Später hatte er sich seiner Cousine Maria Reps zugewandt und sie ebenfalls in andere Umstände gebracht. Aufgesucht wurde er zudem häufig von dem Arbeitermädchen Lina Volquardsen - „für Hertwigs Phantasien eine Gestalt aus den Romanen seines geliebten Dostojewskij" so Maria Reps in einem Brief vom 4. Februar 1974. In ihrer Itzehoer Unterkunft hackte sie grimmig Durchschläge von Hertwigs Traktaten, die an Verlage und Zeitschriften abgingen.
 
   
 

Aus Auerbach wird Allenby

   
  Johannes Ilmari Auerbach geboren 1899 in Breslau, aufgewachsen dort und in Jena, wo ihn der Kunsthistoriker und Archäologe Botho Graef frühzeitig fördert. 1917 Ausbildung zum MG-Schützen bei Straßburg. Seine Einheit wird völlig aufgerieben, ihn rettet seine starke Bronchitis vorher ins Lazarett. Nach dem I. Weltkrieg Kunststudium in Weimar, wo gerade das Bauhaus unter Führung seines Freundes und Mentors Walter Gropius im Entstehen ist. Während seiner Italienreise fordert ihn Hugo Hertwig, den er durch Botho Graef in Jena kennenlernte, brieflich auf, auf den Lindenhof überzusiedeln. Nach Wilstermarsch-Episode und Rekonvaleszenz heiratet er die 17-jährige Inge Harnack. (Nichte des späteren "Rote-Kapelle"-Spionagering-Chefs Arvid Harnack). Zwei gemeinsame Söhne, die Familie lebt für einige Jahre in Frankreich, wo sich Auerbach zeitweilig als Maurer durchschlagen muß. Scheidung von Inge Harnack. In der NS-Zeit zeitweilige Inhaftierung im KZ Fuhlsbüttel wegen jüdischer Herkunft und kurzfristiger KPD-Mitgliedschaft, 1935 mit seiner zweiten Frau Übersiedlung nach England. Dort nennt er sich George Allenby und kämpft im II. Weltkrieg auf britischer Seite. (Sein älterer Sohn aus erster Ehe fällt als deutscher Soldat Ende 1944). In seinen letzten Jahren zum Katholizismus übergetreten, arbeitet er viel als Kirchenrestaurator und stirbt 1950 in Oxford an Herzschlag.