PREUSSE UND FILOU. GRAF WALDERSEE – VON DER GATTIN „REGIERT“, BLUTJUNGE CHINESIN VERFÜHRT
 

Chef der Itzehoer „Neuner“: Ein Haudegen und Pantoffelheld

  Feldmarschall Alfred Graf Waldersee – in Hohenlockstedt unter anderem mit einer Straße, in Itzehoe mit einem Denkmal geehrt – verdankt seine Karriere vor allem der engen Beziehung seiner Gattin zu Kaiser Wilhelm II. In zwei Folgen berichtet CHRISTIAN MEURER über Waldersees Auftritt in der Weltgeschichte und – über seine chinesische Geliebte.

  Wie fast die ganze Welt hielten auch Itzehoe und Umgebung vor 98 Jahren fernöstliche Kriegsereignisse in Atem: der „Boxer“-Aufstand in China, eine Reihe von Greueltaten, mit denen diese nationale Untergrundbewegung diverse europäische Kolonialmächte aus dem Reich der Mitte zu verjagen hoffte. Reaktion darauf war eine europäisch-amerikanische Strafexpedition mit einem gemeinsamen Oberbefehlshaber, dem damals bereits 68jährigen deutschen Feldmarschall Alfred Graf Waldersee.
An dessen Meriten in der blutrünstigen Episode vom Sommer 1900 erinnert – wie in Hamburg, Lübeck oder Hannover – auch in Hohenlockstedt eine „Walderseestraße“ (in Itzehoe, nachdem es die „Waldersee“- Kaserne samt nach ihm benannten Regiment nicht mehr gibt, nur noch sein Kommandeurs-Porträt auf dem „Neuner“- Denkmal vor St. Laurentii).
In Hohenlockstedt lehnt sich der relativ neue Straßenname an die nahegelegene „Walderseehöhe“ an, einen Hügelzug, der schon gleich nach Abschluß der China-Mission benannt wurde. Denn hier, auf dem Gelände des damaligen Truppenübungsplatzes „Lockstedter Lager“ wurde das deutsche Kontingent für den exotischen Waffengang zusammengestellt und vor der Verschiffung via Wilhelmshaven im Umgang mit Tropenkleidung und Maultieren trainiert.
Auch der Hubschrauberstandort am „Hungrigen Wolf“ versucht, als „Waldersee-Kaserne“ an die legendäre Tradition anzuknüpfen. Erst kürzlich gab es deswegen öffentliche Kontroversen.
Der ausgezeichnete Strategie-Experte Waldersee mag als Sozialistenfresser, Antisemit und rabiater Militarist leicht abzuqualifizieren sein ,– viele der erhaltenen Dokumente sind übel genug. Was sich aber zunächst als imperialistischer Kreuzfahrer und ruhmsüchtiger Haudegen darstellt, war zum größten Teil wohl eher ein Karriereprodukt indirekten weiblichen Einflusses, was in der bisherigen Diskussion völlig außer acht geblieben ist. Seine militärische Laufbahn verdankte der Graf beispielsweise größten Teils den engen Beziehungen seiner Gattin zu Kaiser Wilhelm II. Und auch seine China-Mission stand ganz im Zeichen einer Frau. Beide Aspekte kamen erst Ende der 50er Jahre ans Licht. Dann erst fühlte sich ein Großneffe der Gräfin namens Alson J. Smith bemüßigt, die Korrespondenz der Vorfahrin für eine Biographie auszuwerten. Sie erschien zunächst auf Englisch. Ihre Briefe nach Hause befinden sich nämlich jetzt in der Houghton Bibliothek der Universität Harvard, denn Großtante Mary war geborene US-Amerikanerin und stammte aus New York.
Mit drei Schwestern und ihrer Mutter war diese Miß Lee, Tochter eines Gemüsehändlers, nach dem Tod des Vaters und mehreren Europa-Reisen um 1855 endgültig in der alten Welt hängengeblieben, hatte das Leben vor allem im Paris Napoleons III. in vollen Zügen genossen und sich wie die Schwestern neben Studien an der Sorbonne im glanzvollen Ball- und Gesellschaftsleben nach einer guten Partie umgesehen.
Während sich zwei ihrer Schwestern dabei rasch mit Gesponsen aus dem niederen Adel zufriedengaben, hielt sich Mary zurück. Über eine Freundin, die Prinzessin Luise von Schleswig-Holstein, lernte sie jedoch auch deren verwitweten Vater, den von den Dänen wegen prodeutscher 1848er-Umtriebe ins französische Exil vertriebenen Prinzen Friedrich von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg kennen. Er schien Mary geeignet – für ihre Mutter.
Nach geziemender Phase näherer Bekanntschaft begaben sich Mutter und Tochter mit dem Heiratskandidaten im Dezember 1868 auf eine Italienreise. Zum Kummer der Mutter stellte sich dabei jedoch heraus, dass sich der Graf auf die Tochter kapriziert hatte.
  Sie ließ ihn noch zwei Jahre werben, bis sie sich dann amerikanisch-pragmatisch zur Heirat durchrang: keiner „morganatischen“, die sie samt Nachkommen von der testamentarischen Erbfolge ausgeschlossen hätte, sondern, wie sie durchsetzte, einer gleichberechtigten. Für den standesgemäßen Rahmen musste dem Grafen dabei ein kaiserlicher Freund, Sissi-Gatte Franz-Joseph von Österreich, behilflich sein, der dem Paar durch Ernennung zu Fürst und Fürstin von Noer rasch einen neuen Adelstitel verlieh.
So buchstäblich gewappnet konnte der 65jährige sich seine 26 Jahre alte Braut am 3. November 1864 in der Pariser US-Gesandtschaft antrauen lassen. Das Programm der anschließenden Hochzeitsreise nennt Großneffe Smith eine für Miß Mary typische „wahrhaft tolle Mischung aus Frömmigkeit und Genusssucht, praktischem Verstand und Überschwang“. Zunächst ging`s ins Heilige Land, auf dem Weg des Apostels Paulus nach Damaskus, zum Stall von Bethlehem und sogar einen Monat à la Johannes der Täufer in die Wüste, um sich dann auf einer luxuriösen Barke von Kairo aus den damals noch weitgehend unerforschten Nilquellen entgegentreiben zu lassen.
Nach dem asketischen Wüstenaufenthalt änderte der Graf zuvor noch ein Testament zu Marys Gunsten. Was sich schon kurz darauf als weitsichtig erwies: Nach dem Nil-Trip – in Khartoum kehrte man um – gelangten die Flitterwöchner über Kairo gerade noch bis Beirut, dann brach der erschöpfte Graf zusammen und verschied.
Die junge Witwe hatte sich fortan nicht nur der feindseligen Angehörigen, sondern auch böser Gerüchte zu erwehren – mitreisende gräfliche Diener schworen Stein und Bein, daß sie die Kondition ihres Gemahls auf wesentlich delikatere Weise strapaziert habe.
Mary setzte sich bei der kirchlichen Trauerfeier in Kiel dennoch mitten zwischen die eisigen Augustenburger, scheute sich aber nicht, als die das Testament anfochten, sie mit Erbschafts-Prozessen zu überziehen, die das schleswig-holsteinische Traditionshaus an den Rand des Ruins brachten.
Danach kehrte sie nach Paris zurück. Nach dem deutsch-französischen Krieg 1870 zog es sie jedoch häufig in mondäne deutsche Kurorte und zu einer in Württemberg verheirateten Schwester, Gattin des ehemaligen württembergischen Gesandten in Paris.
Ein schneidiger Jagdkamerad ihres Schwagers lief der jungen Witwe dabei über den Weg: Alfred Graf von Waldersee, Kommandant des 13. Ulanregiments im preußischen Generalstab. Preuße und Femme fatale gefielen sich auf anhieb und am 15. Dezember 1873 gaben sie ihre Verlobung bekannt.
Samt Schwiegermutter zogen sie dann in eine Dienstvilla in Hannover, Parkstraße 2, wo der kränkelnde Offizier, der als erstes seine Zigarren aufgeben musste, von beiden Damen mit Jodwasser und „magnetischen Westen“ traktiert wurde. Zur Abhärtung schickten sie ihn sogar ein paar Mal in ein Nudistenbad an die Nordsee.
Die folgenreiche Bekanntschaft mit dem Prinzen Wilhelm, nachmals Kaiser Wilhelm II., fiel ebenfalls in diese Zeit: Nach einer Truppeninspektion um 1880 erschien er erstmals in der hannoverschen Villa. Er fasste rasch Vertrauen zu der weltklugen Amerikanerin. Bald wusste Mary vom Problem des labilen 21jährigen, einer bislang erfolglosen Brautschau.
Sie nutzte den Anlaß zu einem heiratsdiplomatischen Bravourstück, denn sie besann sich auf eine junge Anverwandte aus der Familie ihres ersten Gatten, Prinzessin Auguste Viktoria. Prinz „Willi“ fuhr nach Kiel, um sie in Augenschein zu nehmen, und war begeistert. Die bald darauf erfolgte Eheschließung legte nicht nur Marys privaten Familienkrach elegant bei, sondern kittete gleichzeitig auch das Verhältnis eines großen schleswig-holsteinischen Bevölkerungsteils zum Haus Hohenzollern.
 

Itzehoe: Fenster zu, die Preußen kommen

Etliche Einwohner der frischgebackenen preußischen Provinz hatten vor dem nämlich weiterhin am Haus Sonderburg-Augustenburg als rechtmäßigem Landesherrn festgehalten. In Itzehoe zum Beispiel wurden demonstrativ die Fenster geschlossen, wenn preußisches Militär durch die Straßen marschierte.
Das Haus Hohenzollern revanchierte sich für den aussöhnenden Liebesdienst mit einer Beförderung des Gatten: Als die Waldersees am Neujahrstag 1882 nach Berlin kamen, um am Empfang bei Hofe teilzunehmen, teilte der alte Wilhelm I. ihnen lächelnd mit, dass Graf Alfred demnächst zum Generalquartiermeister und stellvertretenden Generalstabs-Chef ernannt werde.
Vier Monate später zog man in eine großzügige Dienstwohnung im „Roten Haus“ – dem Berliner Generalstabsgebäude in der Herwarthstraße an der Nordseite des Tiergartens. Unmittelbarer Wohnungsnachbar war der verwitwete, schon über 80jährige Feldmarschall Moltke, der sich nicht nur über die Beförderung des auch von ihm favorisierten Waldersee freute, sondern auch darüber, mit Marys Mutter endlich wieder jemanden zum Whist-Spielen zu haben.
Während der ehrgeizige Waldersee sich nun Denkschriften und Aufmarschplänen widmete, stürzte sich Mary in eine Fülle von Aktivitäten: In ihrem Salon traf sich bald der ultrakonservative Flügel der preußischen Hofgesellschaft, um Palastintrigen anzuspinnen. Sie förderte den zwar sozial engagierten, aber stramm antisemitischen Prediger Stöcker, der sie durch die Berliner Elendsquartiere führte. Sie gründete Heime für ledige Mütter – auf sie geht sogar die Gründung des "Christlichen Vereins Junger Männer" (CVJM) nach amerikanischem Muster zurück –, vor allem aber kümmerte sie sich um den jungen Prinzen „Willi“, der die reife Mitfünfzigerin zu seiner engsten Vertrauten erkor. Auch in seinem Fall konnte sich die Gräfin auf ihre Reize verlassen, sein Sammlung von Fotografien leicht bekleideter Fräuleins musste er jedoch in ihrem Beisein verbrennen.
  Ehrgeizig, wie sie war, hoffte sie, den angehenden Monarchen einerseits nach ihrem stockkonservativen Weltbild zu formen und vor allem mit der Idee eines „christlichen Sozialismus“, wie sie Prediger Stöcker propagierte, ein Mittel zur Rückgewinnung der sozialdemokratischen Arbeiterschaft an die Hand zu geben.
Hauptgegenspieler dieser Art Prinzenerziehung waren dessen Eltern, Prinz Friedrich und seine Gattin, Queen Viktorias gleichnamige Tochter, die für den Fall ihrer Thronbesteigung weitgehende Liberalisierungen planten. Doch im legendären „Dreikaiserjahr“ 1888, als Wilhelm I. Am 9. März starb, befand sich sein Sohn Friedrich II. Bereits im Endstadium seiner Kehlkopfkrebserkrankung, seine Regierungszeit dauerte nur 99 Tage. Schon im Juni bestieg Wilhelm II. den Thron.

Eine Chinesin war Waldersees Geliebte


Mary Gräfin Waldersee stand in den folgenden Jahren im Zenit ihrer Macht. „Der Kaiser traf nur wenige Entscheidungen, die er nicht vorher mit ihr in ihrem Wohnzimmer oder im Schloß besprochen hätte“, schreibt ihr Großneffe in seiner Biographie. Die „Neu York Times“ Bezeichnete sie offen als am „Ruder befindlich“.
Ihr Gatte hielt sich inzwischen, soweit er nicht dienstlichen Pflichten oblag, so gut wie möglich schadlos – mit einer sehr jungen Chinesin. Auch von dieser geheimnisvollen Affäre erfuhr das europäische Publikum erst Ende der 50er Jahre, als, von Henry McAleavy ins Englische übersetzt, die Biographie einer chinesischen Kokotte erschien, die sie, alt und verarmt, einem Literaten namens „"Drunken Whiskers"“ in Shanghai diktiert hatte. Aus dem „"Spiegel"“ erfuhren dann auch deutsche Leser „von der Existenz einer chinesischen Bordell-Madame namens Sai Tschin-Hua, die von vielen Chinesen als Nationalheilige verehrt wird, und ihren vielfältigen Beziehungen zum Grafen Waldersee“.
Im ältesten Gewerbe der Welt arbeitete Sai nicht, als sie den Grafen kennenlernte. Nach Berlin kam sie 1887 als Konkubine des chinesischen Gesandten am deutschen Kaiserhof, Hung Wen-Tsching. Laut Spiegel „nahm die 13jährige Sai bei ihm Ehefrauenrechte wahr, da Hungs legale Ehefrau in China geblieben war“.
In seiner Gesandtschaft trieb der an Deutschland desinteressierte Hung vorwiegend Studien chinesischer Schriftkunst. Sai hingegen ließ sich vom deutschen Dienstmädchen Sophie, das etwas Chinesisch konnte, die Landessprache beibringen und belebte als „bemerkenswerteste Schönheit des Berliner Hoflebens die diplomatischen Diners der Reichshauptstadt“ (Spiegel).
Bei solcher Gelegenheit lernte sie auch den Grafen Waldersee kennen. Man traf sich seitdem regelmäßig zum tète-a-tète in einem leerstehenden Gartenhaus im Tiergarten.
Gräfin-Waldersee-Biograph Smith: „Diese gleichzeitig zarte, pikante und groteske Liebschaft soll sich zwei Jahre hingezogen haben. Als Kaiser Friedrich in Potsdam starb, als Wilhelm II. zum Kaiser gekrönt wurde, als Waldersee Moltke als Chef des Generalstabes nachfolgte, als Mary auf Bismarcks Sturz hinarbeitete und als der Eiserne Kanzler schließlich ging, immer kam Graf Waldersee mit der kleinen Sai in dem verlassenen Gartenhaus zusammen."
Doch das Glück im Teehaus währte nicht lange“, wusste wiederum der "Spiegel". „Gesandter Hung wurde im Jahre 1890 nach China zurückgerufen, um einen Posten im chinesischen Kriegsministerium zu übernehmen. Aber auch das Glück im Hause Hung war nur noch von kurzer Dauer. Der Mandarin starb im Oktober 1893 und Sai war gezwungen, ihren Lebensunterhalt auf ihre schon früher praktizierte Weise zu sichern.“
Und auch für Liebhaber Waldersee sollte ein unschönes Jahrzehnt folgen. Zwar wurde zunächst im März 1890 sein Widersacher Bismarck entlassen (der ihn intern als „Spitzmaus“ zu titulieren pflegte), doch Gattin Mary hatte sich schon zuvor mehrfach mit dem jungen Kaiser zerstritten – unter anderem darüber, ob man Bismarcks Sohn Herbert das Kanzler-Amt des Vaters antreten lassen solle, statt ihres Gatten.
Und als der Wihelm II. nach einem Manöver vor versammelten Offizierskorps auch noch eklatante Vorgehensfehler in seinen Befehlen vorwarf, war das Maß voll. Zunächst wurde das Ehepaar nicht mehr zum Diner eingeladen. Am 27. Januar 1891 beim Gratulationsdefilèe zum 32. Kaiser-Geburtstag, überreichte Wilhelm II. dem verdutzten Waldersee zunächst das Großkomturkreuz zum Hohenzollernorden und ernannte ihn dann zum Kommandanten des IX. Armeekorps in Altona.
Mit einem großen Bahnhof von Marys Wohltätigkeitsorganisationen aus Berlin verabschiedet, zog das gräfliche Paar um. Wilhelm II. bemühte sich zwar in den nächsten Jahren wieder um sie, beteiligte sie auch an Versöhnungsbemühungen mit Bismarck, wirklich bereinigt wurde das Verhältnis aber nicht mehr. Mary reduzierte ihre Aktivitäten auf wohltätige Ehrenämter. Nicht ohne inneren Knacks: In Berlin, so ihr Großneffe Smith, hielt man die Gräfin, die unter „Erscheinungen und Eingebungen“ litt, „allgemein für übergeschnappt.“
Mit ihrem Mann sprang der exzentrische Monarch noch wilder um, machte ihm unter vier Augen Hoffnungen auf neue Verwendung im Generalstab, sogar auf das Amt des Reichskanzlers (offenbar wollte er ihn sich für ein geplantes „großes Aufräumen“ gegen die SPD warm halten), beförderte ihn aber dann nur zum Generalinspekteur der 3. Armee in Hannover.
Auf “allerhöchste Kabinettsorder” vom 12. September 1896 wurde er dann auch Chef des Itzehoer „Neuner“- Regiments. Nachdem ihn der Kaiser drei Jahre zuvor „einen Verräter und Schlimmeres“ genannt hatte“, ernannte er ihn im Frühjahr 1900 zum „Feldmarschall“.
Ins Berliner Generalstabsgebäude sind die Waldersees – zumindest als Bewohner – aber nicht mehr zurückgekehrt. Erst vier Jahre vor Wadersees Tod verschaffte ihm der Boxer-Aufstand dann doch noch den ersehnten Auftritt in der Weltgeschichte – und ein unverhofftes Wiedersehen.