PREUSSE UND FILOU: GEGEN AUFSTÄNDISCHE "BOXER" MIT 200 FLASCHEN CHAMPAGNER IM GEPÄCK
Das China-Abenteuer des im Frühjahr 1900 von Wilhelm II. zum Generalfeldmarschall ernannten Haudegens
 

Graf Waldersee und chinesische Geliebte:
Weltpolitik im kaiserlichen Drachenbett

 
 

China: Germans to the Front

Die China-Krise im Sommer 1900: Am 20. Juni wurde der deutsche Gesandte in Peking, Clemens Freiherr von Kettler auf offener Straße ermordet. Die daran beteiligten „Boxer" die sich wegen ihrer Amulette für unverwundbar hielten, trugen seinen Kopf anschließend im Triumphzug auf einer Lanze durch die Straßen — der unerhörteste Exzeß, den sich die fremdenfeindliche Geheimorganisation bis dahin geleistet hatte. Von ihr geschürte Unruhen schwelten in China allerdings schon länger.
Hauptsächlich England, Rußland und Japan hatten in den vorangegangenen Jahrzehnten den China-Handel unter sich aufgeteilt, Häfen, Eisenbahnen und Bodenschätze des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Andere Nationen hatten ebenfalls Ansprüche geltend gemacht. Wilhelm II., ehrgeizig bestrebt, es den anderen „global players" gleichzutun, hatte dann 1898 die Ermordung zweier deutscher Missionare als passenden Vorwand zur Landnahme genommen. Er schickte ein Flottengeschwader nach Fernost, das „zur Strafe" den Hafen Kiautschou besetzte; im anschließenden „Sühnevertrag" wurde China gezwungen, den umliegenden Landstreifen auf 99 Jahre zu verpachten, Bergwerks- und Eisenbahnkonzessionen der dazugehörigen Provinz abzutreten. (Den ähnlichen Hong-Kong-Vertrag schlossen die Briten im gleichen Jahr ab.) China, militärisch hoffnungslos unterlegen, mußte dieser Entwicklung ohnmächtig zusehen. Unterstützt von Chinas Kaiserin-Mutter bildete sich aber der „Boxer"- Geheimbund — nach außen ein Verein zur Pflege alt-chinesischerer Schattenbox-Tradition, der durch seine Terror-Übergriffe die nur von kleinen Kolonial-Garnisonen kontrollierten Hafenstädte für Ausländer nahezu unpassierbar machte.
Und schon am Tag von Kettlers Ermordung hatte Wilhelm II. deshalb an seinen auswärtigen Staatssekretär von Bülow telegraphiert, nach „der schweren Blamage der Europäer" müsse sofort eine „Militäraktion gemeinsamer Natur vorbereitet, „Peking regelrecht angegriffen und dem Erdboden gleichgemacht werden." Die eine Woche später eintreffende Mordnachricht bewog auch die anderen Kolonialmächte (einschließlich USA und Japan) zu einer kraftvollen Machtdemonstration — schließlich wurden ja auch ihre Gesandtschaften in Peking belagert.
Aus dem Tod von Kettlers leitete Wilhelm II. auch das Vorrecht ab, in China den Kommandeur für die internationale Strafaktion zu stellen. Es wurde hingenommen; selbst der Zar ließ zähneknirschend Waldersee durchgehen, obwohl er wußte, wie vehement der sich seinerzeit für den Angriffskrieg gegen Rußland eingesetzt hatte.
  Für Leser der „Itzehoer Nachrichten" fielen im Sommer 1900 Welt- und Lokalberichterstattung kurzfristig zusammen. Sie lasen auf der Titelseite, daß „die schon in den chinesischen Gewässern weilenden Kanonenboote eine Stärke von 2233 Mann und 124 Geschützen" hätten, der „Tiger", „Fürst Bismarck", der „Bussard", vier Linienschiffe und der Kreuzer „Hela" mit Verstärkung unterwegs seien, wozu noch die mit den Hapag- Dampfern „Köln" und „Stuttgart", „Frankfurt" und „Wittekind" abgegangenen Expeditionskorps sowie die 6000 Mann der zwölf in Bildung begriffenen kriegsstarken Brigaden und die in Kiautschou stationierten Landetruppen kämen.
Unter der Rubrik „Lockstedter Lager" fand sich im Lokalteil, daß „mit Rücksicht auf die Ausbildung der nach China bestimmten Truppen sowie in Anbetracht der hohen Tagestemperaturen ein Theil der hier anwesenden Truppen seit einigen Tagen in den frühen Morgenstunden übt, mitunter bereits von 3 Uhr an, während ein anderer Theil des Abends Übung macht".
Am 15. August, als vorn im Blatt zu erfahren war, daß sich am Montag Graf Waldersee vom Offizierscorps in Hannover verabschiedet und dem Berliner Local-Anzeiger erklärt habe, er trete „seine hohe und schwierige Aufgabe mit frischem Muthe an", fand sich unter „Locales" die Itzehoer Meldung, daß „heute Morgen der dem Stab des Grafen Waldersee zugetheilte Oberstleutnant Wachs mit dem Zuge 9 Uhr 16 Minuten unsere Stadt verließ. ... Die Artilleriecapelle" habe bei Abfahrt des Zuges „Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus" gespielt.

Fertigbaracken via Stör noch Übersee

Aber selbst Itzehoer Nicht-Zeitungsleser belehrte zumindest das Sägen und Geklopfe in der Bahnhofsstraße 26 über die kriegerischen Zeitläufe: Unter freiem Himmel, auf dem Werkplatz vom Zimmermeister Bollhardt, wurden im Auftrag des deutschen Reiches Fertigbaracken hergestellt, die dann, via Stör zum Hamburger Hafen verschifft, den Kämpfern in Übersee als Mannschaftsunterkünfte dienen sollten.
Graf Alfred reiste seinen Truppen mit dem Luxusdampfer „Sachsen" vom Norddeutschen Lloyd hinterher, während die letzten Nachschub-Einheiten noch — Sprung auf, marsch, marsch! — im Crash-Kurs über die Sandplätze des Lockstedter Lagers gescheucht wurden. (Hier hatte er sich zu Inspektionen ja auch häufig genug aufgehalten, untergebracht in der „Generalsbaracke", heute Standort der Gebäude von „Spielwaren-Lemsky" und „Gittas Imbiß".)
Wie Biograph Alson Smith überliefert, glich die Fahrt ins Gelbe Meer eher einer Sause: „Im persönlichen Gepäck des Retters christlicher Gesinnung befanden sich nicht weniger als 200 Flaschen Champagner und 50 Flaschen stärkerer geistiger Getränke."
In China am 23. September angelangt, gab es militärisch fast nichts mehr für ihn zu tun: Früher eingetroffene englische Truppen unter Admiral Seymour hatten bereits am 14. Juli Tientsin eingenommen. (Wobei Seymour unterstellte deutsche Kolonialtruppen sich besonders hervorgetan hatten, was zu Seymours berühmtem „The Germans to the Front"- Zitat führte.)
Gefechte hatte es außerdem um Taku gegeben, Peking hingegen wurde fast kampflos erobert.
Waldersee hatte also nur noch einige kleine Strafexpeditionen ins Landesinnere anzuordnen, als er sein Kommando über die 115 000 Mann starke multinationale Streitmacht antrat.
 

Kaiser: „Hausen wie die Hunnen "

Den durchs Lockstedter Lager geschleusten Truppen ging's ähnlich: Für einen Feldzug kamen sie zu spät. Entgegen der brutal-bombastischen Rede, in der Wilhelm II. die ersten von ihnen am 27. Juli bei der Einschiffung in Wilhelmshaven aufgefordert hatte, zu hausen „wie die Hunnen", kein Pardon zu geben, damit „auf tausend Jahre niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen", hatten sie nur noch ein paar versprengte „Boxer"-Haufen für spektakuläre Massen-Hinrichtungen einzufangen.
Bald ging das internationale Korps zu Plünderungen über. Zitternd vor den „fremden Teufeln" saßen nun die Chinesen in ihren Häusern. Raub und Vergewaltigung waren an der Tagesordnung, alle Läden, Fabriken und Märkte geschlossen.
Bei einer „Hauskontrolle" — so jedenfalls die Fama — stießen vier Soldaten und ein preußischer Leutnant in einem Pekinger Haus auf eine Gruppe ängstlicher Frauen. Eine von ihnen sprach seltsamerweise deutsch und berichtete dem Offizier, den Grafen Waldersee aus Berlin zu kennen. Es war Sai, die Geliebte aus dem Tiergarten, die nach Rückkehr und Tod ihres Gatten zunächst mit dem Zirkusartisten Sun San in der Kiukiang Road in Shanghais internationaler Niederlassung ein bald stadtbekanntes Bordell eröffnet hatte.
Später", so der „Spiegel", „verlegte Sai ihr Unternehmen in die Hauptstadt Peking, wo sie mittels ihrer hohen Kundschaft großen Einfluß auf Mandarine und Bürokraten ausübte." Wegen der europäischen Kundschaft hatten ihr die „Boxer" jedoch das Dach über dem Kopf angezündet, so daß sie samt Mitarbeiterstamm bei einem ihrer Diener untergetaucht war — eben da, wo die preußische Patrouille sie aufgriff.
Am nächsten Tag holte eine Kutsche sie zu Waldersees Hauptquartier, dem kaiserlichen Palast. Dahingestellt, ob sie, wie der „Spiegel" 1959 vermutete, von nun an hauptsächlich „Weltpolitik im Großen Drachenbett" der Kaiserin-Witwe betrieben, gelang es Sai zumindest, den Feldmarschall zum energischen Einschreiten gegen die Exzesse seiner Truppen zu bewegen, so daß allmählich wieder eine halbwegs normale Lebensmittelversorgung in Gang kam.
Im Mai 1901 begannen einerseits Entschädigungsverhandlungen mit China (gefordert: 65 Millionen Pfund Sterling), andererseits wurde das Expeditionskorps „auf die Stärke einer gemischten Brigade vermindert" (Reichsanzeiger), die als Besatzungstruppe dort verblieb. Kommandant Waldersee bestieg am 12. Juni den Dampfer „Hertha" und kam am 12. August 1901 wieder in Deutschland an.
 

Waldersee und Sai: Volkstheater-Stars

Er und Sai waren unterdessen zum legendären Liebespaar des chinesischen Volkstheaters geworden. Noch aus den 30er Jahren berichtet ein Legationsrat der deutschen Botschaft, Dr. Hans Bidder, von einer von ihm besuchten Aufführung in einem Pekinger Vorstadttheater, die Sai als Wohltäterin, Waldersee als großmütigen Fremdling präsentierte.
Die von Bidder aufgesuchte Sai schwieg sich zu der Episode, die längst auch in mehreren chinesischen Romanen verbreitet war, ihm gegenüber jedoch diskret aus. Kurz nachdem sie die später von Alison McAleavy ins Englische übersetzten Memoiren diktiert hatte, ist sie in einem Elendsquartier bei der „Himmelsbrücke" 1936 in Peking gestorben.
Heimkehrer Waldersee wurde mit Ehrungen überhäuft. Sein Itzehoer Regiment wurde beispielsweise noch vor seiner Heimkehr am 30. Juli 1901 nach ihm benannt. Im Lockstedter Lager taufte man kurz darauf die Anhöhe auf dem Artilleriegelände nach ihm und setzte ihm einen Findling als Gedenkstein.
 

Chinesen in Hohenlockstedt

Zur Ausbildung für die koloniale Hilfstruppe kamen dann 1902 sogar einige Chinesen dorthin, und lernten so den holsteinischen Soldatenort mit der Hauptwache (zuletzt „Getränke-Tramm", bzw. Leihbücherei und Friseurladen, jetzt Brunnenplatz vor der Raiffeisenbank), Soldatenheim (heute „Getränke- Krause") Offizierskasino (jetzt Wandmaker-Supermarkt), Lagerpark (heute Schulgelände) und nagelneuem Wasserturm kennen. Am 11. November 1902 um „1 Uhr 43 Minuten" konnte Itzehoes Bürgermeister Steinbrück den Ehrenbürger Graf Waldersee auf dem Itzehoer Bahnhof begrüßen. Die „Itzehoer Nachrichten" erschienen mit Sonderbeilage:
„Zu Ehren des hohen Besuchs hatte unsere Stadt ein reiches Festkleid angelegt. Nicht nur wehten von allen Giebeln Fahnen, sondern auch viele Häuser waren mit Tannengrün und Girlanden geschmückt. Am Eingange der Viktoriastraße erhob sich eine geschmackvolle und gefällige Ehrenpforte..."Im „offenem Vierspänner mit Spitzenreiter" fuhr der Feldmarschall durch ein Spalier aller hiesigen Kriegervereine sowie der Feuerwehr, nahm in der Kaserne in der Kaiserstraße die Parade seines Artillerieregiments Nr. 9 ab und fuhr dann weiter zum Rathaus. Davor hatten unterdessen die Krieger- und Militärvereine mit ihren Fahnen Aufstellung genommen, auch die Front mußte noch abgeschritten werden, bevor es in den festlich geschmückten Ständesaal ging, wo Bürgermeister Steinbrück ihn nach einer kurzen Ansprache hochleben ließ.
Waldersee dankte freundlich, versicherte, daß Itzehoes Interesse ihm alle Zeit mit am Herzen liegen würde. Schon von der Bahn aus habe ihn ein Blick auf die Stadt belehrt, daß sie sich in wesentlichem Aufschwünge befinde, verschiedene schöne Neubauten habe er gesehen.
Äußerst vielsagend reagierte Waldersee auf Steinbrücks Lob für seinen China-Einsatz: „Ich kann Ihnen versichern, daß es mir dort sehr gut gegangen ist, denn ich habe viel Neues und Schönes gesehen, habe die schönsten Puncte der Erde berühren können und Verhältnissen und Zuständen gegenübergestanden, die in der Welt noch nicht dagewesen sind. Wenn man dann nun gesund und ohne Fehlschlag wieder herauskommt, kann man an diese Zeit mit Befriedigung zurückdenken."
Dem nachfolgenden „dreifachen Hoch" der städtischen Collegien schloß sich ein kleines Gabelfrühstück an. Nach einem Schläfchen im Bahnhofshotel fuhr Waldersee gegen 6 Uhr zum Offizierskasino in der Kaiserstraße zu einem Gala-Diner des Offizierskorps. „Bei Eintritt der Dunkelheit", so die „Itzehoer Nachrichten", „prangten die Casernements und die meisten Häuser der Kaiserstraße in festlichem Licht und bei dem Officierskasino waren an der ganzen Front brennende Fackeln angebracht. Den Schluß der festlichen Veranstaltungen bildete ein Zapfenstreich ... unter Begleitung zahlreichen Publikums."
Der Mittagszug um 12 Uhr 48 brachte Waldersee wieder nach Hannover, wo er sich fortan hauptsächlich mit der Abfassung seiner abgeklärten Memoiren befaßte, und den drohenden Krieg schon ahnte, froh, ihn nicht mehr miterleben zu müssen. Am 5. Mai 1904 erlag er einem verschleppten Darmleiden, das er sich noch in China zugezogen hatte. Gattin Mary, die mittlerweile am liebsten auf Straßen und in der Eisenbahn fromme Traktate verteilte, überlebte ihn noch um zehn Jahre: Sie starb erst fünf Wochen vor dem Beginn des I. Weltkrieges, in der ihre Welt dann endgültig untergehen sollte.
Begraben liegt das Paar im Familiengrab auf dem Waldersee-Gut Stöss (heute Teil der Ostsee-Gemeinde Behrensdorf) nahe Lütjenburg im Kreis Plön.