Maria Sophia von Stutterheim kurbelte 1819 Itzehoes Gesundheitswesen an
 

Die Itzehoer „Wunderfrau“

  Anno 1819 sorgte in Itzehoe eine alte Frau aus dem Sächsischen für Aufregung. Maria Sophia von Stutterheim entfesselte in der Stadt einen regen Kurbetrieb. Wie zuvor in anderen Orten, stieß sie damit auch an der Stör nicht nur auf Zustimmung.
  Itzehoe als Kurort oder Heilbad? Auch das gab es schon. Vor 350 Jahren verzeichnete die Schulchronik von Stakendorf bei Kiel, am 24. August 1646 seien begleitet vom „Alten Hanß Süberkrüp, 3 Kinder - Sägers Gretje, Aßmus Lampe und Munds Sylke nach Itzehoe zum Brunnen gezogen und am 6. September wiederkommen, hätten aber keine Besserung erlanget". Den eigentlichen Boom als Gesundheitszentrum erlebte die Stadt aber erst 180 Jahre später. Grund dafür war auch nicht der als Straßenname noch erhaltene Lübsche Brunnen, der sich im Umkreis des „China Town-Restaurants" befand, sondern eine obskure, um die 70 Jahre alte Sächsin auf - erzwungener - Durchreise: Maria Sophia von Stutterheim.
Unterlagen zu dem seltsamen Fall aus dem Jahre 1819 finden sich an zwei Stellen: im Stadtarchiv eine kleine Sammlung amtlicher Berichte, in der Bibliothek der Kaiser-Karl-Schule (KKS) eine ausführliche Schilderung in einigen der 197 dort aufbewahrten Briefe des Itzehoer Schriftstellers Johann Gottwerth Müller an den Hamburger Buchhändler Schwormstädt. Dank dieser Dokumente lassen sich die Ereignisse, die das 5000-Einwohner-Städtchen damals in Aufregung versetzten, recht zuverlässig wiedergeben.
 

Hunderten soll sie geholfen haben


Ausgang Oktobers oder Anfang Novembers 1818", so Müller, sei „die Stutterheim in Ketten und Banden hierher geschleppt" worden. Offensichtlich bald darauf entlassen, entfesselte die alte Dame einen regen Kurbetrieb: „Hunderten hat sie, wie man laut versichert, geholfen, verschlimmert hat sich bey ihr, so viel ich immer in Erfahrung bringen konnte, kein einziger unter den 8 bis 900, die aus den Marschen, aus dem Hannöverschen, aus Helgoland usw. bey Wagen und Schiffen herbeiströmten, und von denen alle Wirtshäuser voll lagen." Auch über ihre Behandlungsmethode, die sie „in die Sympathie gehen" nannte, konnte Müller detailliert nach Hamburg berichten: „Um in die Sympathie zu gehen, muß es ein sternheller Abend, am besten ein Donnerstag Abend seyn; Am Sonnabend so wie an Sonn- und Festtagen unternimmt sie nichts. Der Patient muß sich nach Beschaffenheit seines Uebels ganz entkleiden oder nur den leidenden Theil entblößen, dann zeigt sie ihm einen Stern, den er unverwandt anschauen muß, sie murmelt einige unverständliche Wörter und darauf manipuliert sie den leidenden Theil." Sie selbst habe eine geheimnisvolle Fußwunde, die sie offenhalte, denn, so habe sie zumindest einer ihm bekannten Dame von Stande erklärt, sonst zögen „die Ungesundigkeiten, die jetzt alle dorthin ziehen, sich anderswo hin, und eben so leicht auf innere Theile als auf äußere Glieder".
Das Fußorakel befrage sie bei jedem Kranken: „Der Patient muß seine rechte Hand auf ihre linke legen, dann streichelt sie ihm dieselbe mit ihrer rechten, setzt sich also mit ihm (magnetisch zu reden) in Rapport, und dann beurtheilt sie nach der Empfindung, die das in ihrer Fußwunde hervorbringt, ob der Kranke ganz, oder nur zum Theil oder gar nicht zu heilen sey." Bei mehreren Müller persönlich bekannten Kranken (siehe Bericht unten) habe sie auch Beschwerden während des Heilungsprozesse exakt vorausgesagt“.
Müller schrieb das bereits rückblickend, am 4. April 1819 - inzwischen war die rätselhafte Heilerin, die sich - einem amtlichen Schreiben zufolge - vorher auf dem Gut Seedorf bei Schlamersdorf im Kreis Segeberg aufgehalten hatte, in Itzehoe schon zweimal verhaftet und zu einer dreimonatigen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Ihr Delikt: Sie hatte - entgegen der städtischen Medizinalverfügung - ohne Doktordiplom und Lizenz kuriert. Die klösterliche Obrigkeit, eine der damals vier für verschiedene Teile der Stadt zuständigen Amtsbehörden, leitete eine Untersuchung wegen Quacksalbereien und angeblicher Wunderkuren ein, dann wurde sie eingesperrt. Ein wohlhabender Itzehoer Bürger zahlte jedoch 1000 Reichstaler Kaution, und so kam sie mit der Auflage, „ihre sympathetischen Kuren nicht fortzusetzen, bis zur Erledigung eines von ihr Allerhöchsten Orts (d. h. beim dänischen König) eingesandten Begnadigungsgesuches" wieder frei. Ob sie nun im Garten ihres Quartiers am Sandberg ihre Tätigkeit wieder aufnahm oder ob nur in der Stadt umherschwirrende Gerüchte die Ursache waren - einem ihrer Kollegen von der schulmedizinischen Fakultät, dem aus Wien nach Holstein verschlagenen Dr. Berghofer, ließ ihre Anwesenheit an der Stör keine Ruhe. So schickte der laut Müller hier noch nicht ganz Warmgewordene am 20. Februar 1819 einen angeblichen Zeugen zur klösterlichen Obrigkeit, um seine Aussage protokollieren zu lassen: „Auf Veranlassung des Doctors Berghofer hierselbst erscheint ein bei der Stutterheim in der Cur gewesener Landmann, welcher auf Befragen aussagt, er heiße M. Fr. Mordhorst, sei 39 Jahre alt und habe sich in Haale im Kirchspiel Schenefeld seit etwa 8 Jahren als Arbeitsmann ernährt. Er leide an der Gicht und weil er nun in dortiger Gegend von der hier befindlichen Doctorin viel Rühmens gehört, habe er in dem Glauben, daß sie ihm würde helfen können, vorgestern nach Itzehoe sich begeben woselbst er um die Mittagszeit angekommen und sich bei Claus Offe im Sandberg einlogiert habe. Gleich nach seiner Ankunft sei er zu ihr gegangen, um sich wegen seines Übels Raths zu holen, worauf sie ihn zum Montag oder Donnerstag in die Sympathie bestellt habe.(...) Mordhorst habe sich nun am öbern Theile des Körpers nact ausziehen müssen und sei dann von dem Dienste hinten aus der Thür gelassen worden, wo die Doctorin ihn mit dem Finger auf dem Kopfe, den Armen, der Brust und übrigen Leibe umhergefahren sei und dabei etwas unverständliches gemurmelt habe."
 

Kriminalisten unterschätzt

Der Rest des Protokolls behandelt neben Mordhorsts Enttäuschung über die erfolglose Kur eine andere Frage: Ihm sei während seines Itzehoe-Aufenthaltes das Geld ausgegangen, erst habe er sich etwas leihen können, dann habe er aber zum Pfandhaus gehen müssen und einen mitgebrachten grauen Oberrock nebst Kragen versetzt. Die Aussage schließt: „Nach geschehener Vorlesung bat Mordhorst, falls dieser wegen nach seinem Aufenthaltsort geschrieben würde, daß des Umstands des Rocks nicht erwähnt werden möge, damit solcher nicht zu den Ohren seines gegenwärtigen Dienstherrn kommen möchte." Wegen Behandlung einer Frau aus Marne reichte Berghofer einen Monat später noch eine Anzeige ein, beides nahm das Königlich Holsteinisch-Lauenburgische Obergericht in Glückstadt, das Itzehoes Polizeichef Lüders schon mehrfach zu scharfer Kontrolle der Stutterheim ermahnt hatte, zum Anlaß, von diesem Rechenschaft zu fordern. Lüders antwortete umgehend: „Entgegen Doctor Berghofers Behauptung", die Stutterheim treibe nach wie vor ihr Unwesen, habe er der früheren Anweisung aus Glückstadt sofort Folge geleistet, „und sie gleich nach dem Empfang desselben unter genauere Policeiaufsicht gestellt, indem ich den Policeidiener mehrmals am Tage und zwar zu verschiedenen Zeiten das Logis der gedachten Person besuchen hieß, vorzüglich aber die Abendzeit nicht außer Acht zu lassen. Sehr selten hat derselbe die Stutterheim anderswo als auf ihrem Zimmer angetroffen, einige Male traf er sie unten bei den Wirtsleuten kartenspielend an". Ertappt habe man sie nie. Was den Zeugen des Doktor Berghofer anlangte, hatte der einstige Wiener den Itzehoer Kriminalisten eindeutig unterschätzt: „Der Mensch ist ein Säufer und wollte einen Rock, welcher ohne Zweifel seinem Dienstherren gehörte, im Pfandhaus versetzen, um Geld zur Fortsetzung seiner Studien zu erhalten. Um nun über den Werth dieses gleich verdächtig erscheinenden Zeugen Auskunft zu erhalten, erkundigte ich mich nach demselben bei dem hiesigen Bürger Claus Offe, wo er logiert haben wollte, erhielt aber zur Antwort, daß ein solcher Mensch überall nicht bei ihm gewesen. In der Stadt war er aber nicht weiter aufzufinden. Gleich nachher erfuhr ich jedoch auf die zuverlässigste Weise, daß diesem Menschen Geld versprochen worden, wenn er ins Polizeiamt gehen und daselbst zu Protokoll aussagen wolle und daß er darauf auch wirklich Geld für seine Bereitwilligkeit erhalten. Die Anzeige könne wegen dieser Aussage höchstens den Doctor Berghofer compromittieren." Abschließend schlug Lüders vor, die Stutterheim nicht ins klösterliche Arresthaus zu sperren, sondern lieber das Begnadigungsgesuch der Verurteilten zu beschleunigen.
Dem Bericht fügte der Polizeimeister einen Tag später noch eine kurze Ergänzung hinzu: Sofort nach Erhalt der Glückstädter Dienstanweisung habe er sich „in das Logis der Stutterheim verfügt, sie krank im Bett angetroffen" - auf Befragen habe sie die ebenfalls von Berghofer angezeigte - mißlungene - Heilung einer Kranken aus Marne aber abgestritten. Wie der erwähnte Müller-Brief zeigt, mußte Lüders sie schon in der nächsten Woche erneut verhaften.
Schlecht war es der Vorfahrin der jetzigen Wunderheiler und Homöopathen, die aufgrund eines Gelübdes von Arm und Reich das gleiche geringe Honorar nahm, zwischendurch aber nicht gegangen. Müller erwähnt nicht nur, daß sie von einem Assistenten begleitet wurde, sondern auch einiges über ihre Trinkgewohnheiten. Sie brauche „täglich ein paar Bouteillen Drimadra, außerdem noch sehr oft eine oder ein paar Bouteillen Champagner und andere feine Weine". Von April bis August 1819 blieb sie in Itzehoe inhaftiert, am 9. August gab Müller dann nach Hamburg weiter, daß die Stutterheim, verurteilt, das dänische Gebiet zu verlassen, vier Tage zuvor abgereist sei. Müller sarkastisch: „Ca. 9 Monate Gefängnis sind keine gelinde Strafe für das ungeheure Verbrechen, gegen 1000 Menschen die Gesundheit wiedergegeben zu haben."
 

Erstaunliche Heilung dreier Männer

Johann Gottwerth Müller über die Heilungserfolge der Wunderfrau: „Dieser Frau ist hier unter vielen hunderten kein einziger gestorben und das ist nun eben kein Wunder, denn mit acuten Krankheiten befaßt sie sich nicht, sondern bloß mit chronischen, z.Ex. Stein Gicht und dergleichen, und da kenne ich, der sich bisher wenig um diese Frau bekümmerte, drey Männer, die sie zu meinem gerechten Erstaunen geheilt hat.
1. Der Gärtner meines Grafen hatte sich jahrelang mit einem Beinschaden geschleppt, wider den die hiesigen Ärzte so wenig vermochten als vormals die Hamburger. Die Frau hat ihn völlig hergestellt.
2. Der Kaufmann Schuhmacher in der Wilster Marsch hat jahrelang äußerst elend an der Gicht gelegen, alle Arzte, die ihn bisher viel Geld kosteten, ließen ihn hülflos; er ließ sich herüber fahren, vertraute sich der Frau an und ich habe ihn frisch und gesund vor mir herumspringen sehen.
3. Der Kutscher ihrer Durchlaucht, unserer Prinzessin-Äbtissin war vor geraumer Zeit mit einer Wagendeichsel in die Rippen gerannt, äußerlich wurde er hergestellt, innerlich behielt er Schmerzen, von denen ihn weder die hiesigen Ärzte noch der Leibsedicus und Etatsrath Suadicani in Schleswig zu befreyen wußten, er vertraute sich der Frau, und er ist völlig geheilt.
Das sind drey Thatsachen, für die ich mit Leben und Ehre einstehe. Nr.l und 2 habe ich aus dem eigenen Munde der Geheilten. Herr Schuhmacher versicherte mir, er sey wie neugeboren.(..) Einen vierten Fall, wo sie einen jungen Menschen, der jetzt in den Zwanzigern ist und in seinem 9ten Jahre in einer schweren Krankheit taub und stumm wurde, so weit gebracht haben soll, daß er bereits das Rasseln eines Wagens hört und einige durch Zwischenräume getrennte Worte sprechen kann, muß ich erst näher untersuchen. Soviel hat mir Madam Helsing betheuert, daß er, wo ich ihn in Begleitung eines Herrn Kohlmetz, bey dem er im Hause ist, nicht lange vorher taubstumm gesehen hatte, am Palmsonntage in die Stube getreten sey mit den Worten: Madam - - Schnapps. (Helsings haben einen öffentlichen, sehr besuchten Garten.) Der Lieutnant von Hedemann konnte ohne zwey Krücken gar nicht und und auch mit diesen nur kümmerlich von einem Stuhle zum andern kommen; jetzt geht er schon, bloß am Stabe auf den Gassen, und wahrscheinlich wäre er völlig hergestellt, wenn die zweyte Verhaftung der Frau seine Cur nicht unterbrochen hätte (...).