Wirklich eine Altlast: Am 21. Juni 1973 war der kurz vor Weihnachten 1972 zwischen Unterhändlern Michael Kohl (DDR) und Egon Bahr (Bundesrepublik) ausgehandelte Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten in Kraft getreten. Auch ein heftiger Vertrags-Gegner wechselt seitdem 4-5 Mal pro Jahr von West- nach Ost-Berlin: Heinrich Lummer, damals CDU-Fraktionsvorsitzender im Berliner Abgeordneten-Haus, traf sich nun regelmäßig mit Ost-Berlinern zum geselligen Beisammensein in einem Lokal in der Rosenthaler Straße.
Meist im Schlepptau: Der frühere Abgeordnetenhaus-Präsident Walter Sickert und Lummers Bekannter Sven Bergmann, der als Fluchthelfer geschnappt und von der Stasi umgedreht worden war, sich Lummer aber heimlich offenbart hatte. Dies Trio fiel der Abteilung XV der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Berlin natürlich auf, und der zuständige Abteilungsschef Niederländer wusste natürlich, dass der Westberliner CDU-Rechtaußen sich nur gerade von seiner Frau Aurelia getrennt hatte, sondern auch der Mittelpunkt von „stadtbekannten Gelage und Affären“ –so ein späterer Stasi-Erpresserbrief – gewesen war. Also hielt er sich an Richtlinie Nr 2/68 („Anwerbung auf der Grundlage „kompromittierender Umstände“) und setzte seine IM Frauke Borchardt (damals verheiratete Wagner) auf Lummer an. Sie stellte sich ihm als ledige DDR-Bürgerin „Susanne Rau“, 25, vor, beschäftigt beim staatlichen Kunsthandel der DDR und damit Reisekader. Insgesamt 8 Jahre sollte die West-Ost-Amour dauern.
Was die Ost-Agentin nicht wusste: Lummer, als Mitglied des Sicherheitsausschusses auch sonst gut informiert, arbeitete seit Jahrzehnten mit dem BND zusammen. Allerdings wusste Pullachs Geheimdienstler wiederum von seiner Ost-Freundin nichts. So fuhr das Pärchen allein oder mit Freunden nach Köpenick oder an den Müggelsee, häufig geknipst von der Stasi, für die „Susanne“ anschließend auch einschätzende Berichte abfasste. Sein innerdeutsches Techtelmechtel hielt Lummer 1974 auch nicht davon ab, gegen den gerade wegen der Guillaume-Affäre zurückgetretenen Willy Brandt Strafanzeige wegen „fahrlässiger Preisgabe von Staatsgeheimnissen“ zu erstatten. .
Im Sommer 1980 fuhr er mit „Susanne Rau“ nach Prag, wo sie in einem Hotel zufällig einen Bekannten von ihr trafen, der sich Lummer gegenüber als in der Internationalen Jugendarbeit der DDR tätiger Lehrer Dr. Michael Piek vorstellte. Im März 1981 schien Auslandsaufklärungschef Markus Wolff dann die Zeit reif:. Diesmaligen wollte „Susanne Rau“ nicht mehr mit Lummer ins Hotelzimmer, auch nicht ins Lokal: er solle direkt in ihr Wohnung in einem elfstöckigen Häuserblock in der Heinrich-Rau-Straße 50 in Berlin-Marzahn mitkommen. Lummer, der damals viel beschäftigt, kam nur widerwillig mit (Spiegel 36/89 „Gleichzeitig hatte er mit Betty Bedecker, 22, einer Schauspielerin und Miterbin des Babynahrungsherstellers Hipp, wie „BILD“ vermeldete, „Berlins größte Romanze“.). In „Susanne Raus“ Wohnung wurden sie und Lummer dann von zwei Herren aufgesucht , die sich mit den Decknamen „Wagner“ und „Lindner“ als DDR-Offizielle vorstellten und mit dem West-Besuch politische Diskussionen führen wollten. Lummer akzeptierte und man fuhr in eine konspirative Wohnung in der Karl-Marx-Allee, wo eine Stasi-Serviererin mit Schnittchen und Getränken aufwartete. .
Lummer zufolge ging man unverbindlich auseinander. Nach sechs Wochen suchte„Susanne Rau“ erneut um einen Treff im Hotel „Metropol“ nach. Lummer erhoffte sich die Möglichkeit einer vertraulichen Aussprache, als er dort eintraf, wartete seine Dame allerdings wieder mit den beiden Herren. Nochmals ging es in die Karl-Marx-Allee, diesmal bot man ihm auch an, in der DDR auf die Jagd zu gehen. Doch nun wurde Lummer die Sache zu blümerant, er brach den Kontakt ab. Kurz darauf war er Innensenator von Berlin, der sich, selbst Sohn einer jugoslawischen Mutter, bundesweit einen Namen im Kampf gegen Asylbewerber machte.
Auf einen Treff ließ er sich im Sommer 1981 noch ein – mit seiner Prag-Bekanntschaft, dem angeblichen Lehrer Dr. Piek, allerdings im Café Möhring am Kurfürstendamm. Doch als Piek von Wagner“ und „Lindner“ grüßte, brach Lummer das Gespräch ab, auch ein weitere Anruf Pieks vom U-Bahnhof Krumme Lanke aus konnte Lummers Meinung nicht ändern. Ende Mai kündigte Piek Lummer dann ein Schreiben an, den er sich bei einer bekannten abholen könne. Dem Schreiben – Umschlagbeschriftung: „Lieber Heinrich! Anbei das Material, das dich über den von dir gewünschten Weg sicher noch rechtzeitig erreichen wird. W. u. L.“ – lagen mehrere Fotos von Zärtlichkeiten mit „Susanne Rau“ bei. .
Man sähe, so die Stasi an Lummer, „ keinen akzeptablen Grund, unsere Beziehungen ohne das mehrfach zugesagte Gespräch einfach einzustellen.“ (..) Erfahrung und Klugheit lassen sie gewiss nüchtern einschätzen, dass neben ihren zahleichen offenen Feinden immer mehr politischen „Freunden“, von denen sie nun noch abhängiger geworden sind, jeder Anlass für ihren Abschuss willkommen wäre. Ihre Leibjournalisten aus Berlin und Bonn und ihre immer weniger werdenden echten politischen Freunde (gehört zum Beispiel R. noch dazu?) werden Sie sicher über manches und auch darüber informieren, dass die Sie tragende Decke sehr dünn geworden ist.(…) Sehen Sie wirklich nicht, dass Sie von ihrem eigenen Apparat bearbeitet werden und von welcher Ecke her Sie erpressbar gemacht werden sollen? Zu Bedenken gegeben wurde Lummer außerdem, dass „Menschen ihrer früheren und heutigen Umgebung ihr Wissen um intensive Kontakte eines Prominenten nach der anderen Seite nicht vermarkten“, solle „gerade jetzt nicht als Wunder strapaziert werden.“ .
Er sei in Ost-Berlin „systematisch in zwielichtige Kneipenkreise“ abgerutscht: „Nur unser Eingreifen hat sie vor geplanten Erpressungsversuchen krimineller Elemente geschützt! Und „neben vielen belebenden Annehmlichkeiten, wie den zahlreichen Theaterbesuchen, Ausflügen und Mußestunden“ die er in der DDR erlebte; habe er „bei unseren letzten direkten politischen Gesprächen durchaus nicht den Eindruck erweckt, dass Ihnen die Atmosphäre nicht zusagt.“ Man habe sich „mit festen Absprachen verabschiedet! Schließlich habe er selbst bei der ersten Begegnung gesagt, dass er „ein „toter Mann“ wäre, „wenn die Öffentlichkeit davon erfährt.“ .
Allerdings: „Die Chance, daraus Nutzen für ihre weitere Tätigkeit zu ziehen, besteht weiter. Wie Sie uns erreichen, wissen Sie.“ Beim nächsten Anruf kassierte Piek eine barsche Abfertigung: Lummer fuhr ihn wütend an, er sei nicht erpressbar. Am 21. November 1982 gab es einen Empfang im Schöneberger Rathaus: Lummer feierte 50. Geburtstag. Einem der Blumensträuße lag eine Karte von „Susanne, Micha und W. Lindner" mit der „Hoffnung auf ein persönliches Wiedersehen.“ Auch daraus wurde nichts, inzwischen hatte nämlich ein DDR-Überläufer namens Möcker beim Berliner Verfassungsschutz über Dr. Piek als hauptamtlichen Stasi-Mann ausgepackt, der ihm gegenüber auch seine Prag-Connection zu Lummer eingeräumt hatte, nachdem er ihn mit Lummer in einem Ost-Berliner Museum beobachtet hatte. Lummer als Dienstherr des Verfassungsschutzes war im Februar 1982 über die Aussage informiert worden. Spiegel 36/89: „An den Rand der Mitteilung schrieb der Christdemokrat die handschriftliche Notiz "Trifft zu", mehr nicht. Eine nähere Erläuterung zu seinen Ost-Kontakten gab er nicht.“ .
Überhaupt gab er sich gegenüber West-Behörden sybillinisch: Franz Natusch, dem Chef des Berliner Verfassungsschutzes verschwieg er in einem Gespräch sowohl die Affäre mit „Susanne Rau“ wie Piek-Anrufe und „Wagner“& „Lindner“-Gespräche in der Karl-Marx-Allee. Den BND kontaktierte er nur ein einziges Mal, obwohl er später das Gegenteil behauptete und er behielt auch für sich, dass er den seinen von der Stasi auf ihn angesetzten Kumpel Sven Bergmann im Alleingang umgedreht hatte und dessen Ost-Rapporte vorher mit ihm absprach. Und auch als Natusch riet, über Bürgermeister Richard v. Weizsäckers Kontakte zum sowjetischen Generalkonsul zu intervenieren, um die Stasi von Lummer abzubringen, schummelte der Innensenator. Wie sich Weizsäcker später erinnerte, habe Lummer nur mitgeteilt „der Geheimdienst der Sowjets oder der DDR, so genau wisse er das nicht, versuche, Leute auf ihn anzusetzen“ (Spiegel 36/89). Auf den Berliner Filz konnte er sich dabei allerdings verlassen, SPD-Verfassungsschutzchef Natusch hielt es für klüger, an der Sache nicht zu rühren. Der Chef der Senatskanzlei, Hans Jürgen Schierbaum sprach auf Weizsäckers Geheiß beim Botschaftsrat Kossobrodow in der Ostberliner Sowjetbotschaft vor, die dem bundesdeutschen Stellen das tatsächliche Ausmaß der Lummerschen Verstrickungen andeutungsweise enthüllten. .
Einen Tag nach Lummers 50. Geburtstagsfeier wandet sich BfV-Chef Natusch direkt an v. Weizsäcker, doc man beschloss, nicht an der Sache zu rühren. Lummers Tochter bekam zwar noch einmal Stasi-Post mit Enthüllungen über ihren Vater – letzten Endes aber führt wohl kein an der Tatsache vorbei, dass es zumindest Heinrich Jodokus Lummer gelang, bei der Stasi Sex & Fun abzusahnen, ohne je eine Gegenleistung zu erbringen. Der letzte Drohbrief erreichte ihn Ostern 1986. .
Darin wurde dem „werten Herrn Lummer“ gedroht „gewisse Leute“ hätten offensichtlich ihre Spur auch noch in Richtung Osten aufgenommen“. Schadenfreude empfände man in Mielkes Madgalenenstraßen-Zentrale nicht, „wenn jetzt sogar die Leitung eines Senders jetzt von den erwähnten Beziehungen Wind bekommen hat. Diese Tips kommen eben von denen, deren Sache Sie vertreten. Die Absicht ihrer Parteifreunde, sie mundtot zu machen, ist und schwer erkennbar; die Chance, dieser Absicht entgegenzuwirken, sehr gering!“ Denn „die Indiskretionen haben wir nicht gewollt, politisch käme ihr Rücktritt einem bekannten Fenstersturz gleich. So stehen wir vor der Frage, weitere Enthüllungen zu verhindern! Dies würde erheblichen Aufwand erfordern. Es erscheint uns deshalb dringend geboten, über eine Schadensbegrenzung zu reden. Zumindest können wir dafür Sorge tragen, dass tiefer gehende Recherchen im Osten erfolglos bleiben.“ .
Dieses matte Angebot konnte allerdings nicht mehr verfangen, einen Tag vor Erhalt des Briefes hatte Lummer als Innensenator zurücktreten müssen; der „Spiegel“ hatte kurz zuvor enthüllt, dass Lummer 1971 einer Neonazi-Gruppe 2000 DM dafür gegeben hatte, SPD-Plakate zu überkleben. .
Kurz vor Wende flog die Angelegenheit durch eine weitere Enthüllung dann doch auf: Stasiflüchtling Möcker, der den Lummer-Freund Dr.Piek enttarnt hatte, geriet durch einen anonymen Brief selbst unter Verdacht einer fortgesetzten Stasi-Tätigkeit. Dabei wurden auch die entsorgten Lummer-Akten entdeckt. LfV-Chef Natusch war längst in Pension, auch sein direkter Nachfolger Wager amtierte schon nicht mehr, er war von Natusch ebenso wenig informiert worden wie sein Nachfolger, der vom neuen rot-grünen Senat eingesetzte Dieter Schenk. Aber im turbulenten Wendejahr profitierte einzig die „Quick“ noch davon. Sie veröffentlichte einige der Fotokopien, die Lummer in geselligen Kneipenrunden, aber auch in zärtlicher Umarmung mit Susanne Rau zeigen.
Während des Berliner Wahlkampfs 1981 trat Heinrich Lummer erstmals auch als Sänger in Erscheinung
(siehe youtube Heinrich Lummer - Ich kenn eine Stadt. Seine gleichzeitigen Stasi-Kontakte geben dem Lied einen denkwürdigen Hintergrund.
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