Der weinpanschende Senator


Dieter Schinzels über zwölf Jahre verschleppter Mega-Schuldenprozeß ist sicher eine staunenswerte Errungenschaft für die deutsche Politkriminalität. Fast noch imposanter ist es aber, beinahe den gesamten deutschen Weinmarkt für Jahre zu ruinieren. Im November 1984 gingen beim österreichischen Bundesamt für Weinbau anonym drei Weinproben mit dem Hinweis ein, sie seien mit Frostschutzmittel geschmacklich aufgepeppt worden. Die Chemiker der Behörde brauchten 4 Monate, um ein geeignetes Nachweisverfahren auszutüfteln. Am 16. April 1985 fuhren bei Weinhändler Siegfried Tschida in Seewinkel im Burgenland Inspektoren-Fahrzeuge vor, um 1000 Liter Auslese aus den Tanks zu konfiszieren. Weitere Durchsuchungen folgten, bei denen dann 3 Millionen Liter Wein beschlagnahmt wurden, die Tschida für den Export in die Bundesrepublik eingelagert hatte. Kein Einzelfall: Bald saßen in Österreich 10 Weinpanscher in Haft. Heiner Geißlers Bundesgesundheitsministerium war aus Wien nur mit einem lapidaren Fernschreiben informiert worden.
In Deutschland kam der Skandal so erst ins Rollen, als deutsche Lebensmittelkontrolleure eine „Rüster Auslese“ aus einem Stuttgarter Supermarkt untersucht hatten. Auch darin fand sich, Diethylenglykol, eine dem für Frostschutzmittel benutzen Ethylenglykol ähnliche Substanz. Sie versüßt, ist unbeschränkt löslich und durch übliche Untersuchungen nicht nachweisbar. Die Entdeckung stürzte nicht nur Österreichs Weinhandel in die Katastrophe (800 Sorten erwiesen sich als bearbeitet), sondern auch den deutschen: Der deutsche Weinbau versüßte nämlich seinen Rebensaft gewohnheitsmäßig mit südlicheren Lagen – Landwein aus Italien und österreichische Prädikatsabfüllungen. So war Glykol auch im deutschen Wein allgegenwärtig, denn er wurde ziemlich zentral vertrieben.
Als Magnat der Branche erwies sich überraschenderweise der amtierende Westberliner Wirtschaftssenator, Elmar Pieroth. Der war in den 50er Jahren nicht in den elterlichen Weinbaubetrieb in Bad Kreuznach eingestiegen, sondern hatte mit Bruder Kuno und Vetter Dieter die Firma WIV Wein International gegründet, die mit Direktvertrieb vom Winzer zum Kunden den deutschen Weinhandel revolutionierte. In der 80er Jahren war WIV mit etlichen Töchtern der größte Weinanbieter der Bundesrepublik, 3600 Mitarbeiter machten weltweit über eine halbe Milliarde DM Umsatz. Zunächst hatte man noch jeden Verdacht von sich gewiesen: „Das kann bei uns nicht passiert sein. Es ist kein Liter österreichischer Prädikatswein im Haus.“
Man hatte ihn aber gut verteilt – die Pieroths hatten sich viele romantische Weinnamen angeschafft, so war Glykol in „Gutsweinen“ von der Nahe und „Beerenauslesen“ aus Rheinhessen genauso zu finden wie in badischen „Original-Güterabfüllungen“. Pieroth-Dépendancen in Schloßböckelheim hießen „Niederthäler Hof“, "Nierstein Kurfürstenhof", aber auch das Weingut Steyert am Kaiserstuhl oder die Sektkellerei Baum waren Unterfirmen des Pieroth-Clans, wie der Solterer Hof oder Winzerverein Niederhausen. Kein Wunder, abgefüllt wurden die Flaschen oft zentral in der großen Abfüllanlage der Pieroths im Bad Kreuznacher Industriegebiet Langenlonsheim. Die Kellermeister verliessen sich auf ernüchternde Methoden: Deutschen Lagen wurde mit über 2000 Pestiziden gegen Virus- und Pilzerkrankungen zugesetzt; dem gekelterten Wein dann mit der so genannten „Süßreserve“– totgeschwefeltem Traubenmost. Ebenso gängig war die „Nassverbesserung“, ein Zuckerwasseranteil von bis zu 33%. Für Flaschenetiketten mit beliebige Ortsnamen wurden diverse Jahrgänge und Traubensorten zusammengeschüttet (In der „Großlage“ „Burg Layer Schlosskapelle“ erwartete den Zecher z. B. eine Mixtur aus 12 Dörfern mit 62 Einzellagen rund um den Ort Rümmelsheim.) Direkte Kundenanbindung sorgte für satte Gewinne. Spiegel 34/ 85: „Nur weil die Weinkunden ihren „Beratern“ Kompetenz zutrauten, konnten die „Pierothiner“, wie sie sich nennen, exakt die gleiche Ware, die im Supermarkt für 2,98 Mark im Regal steht, unter anderem Etikett zum Pieroth-Durchschnittspreis von zehn Mark verkaufen.“
Zugesetzt wurden außerdem das Aluminiumsilikat Kaolin, das Tonmineral Bentonit, mit Aktivkohle, Gelatine, Gerbsäure, Kieselsäure, Schwimmblaseneiweiß von Stör, Wels oder Hausen. Den Berliner Wirtschaftssenator hatte die Enthüllung am 9. Juli 1985 im Wohnmobil auf den Weg in den Türkeiurlaub erreicht, damals hatte Bundesgesundheitsminister Geißler öffentlich von österreichischen Prädikatsweinen abgeraten. Pieroth machte kehrt. „Ein halbes Jahr lang haben wir mehr Wein bei den Kunden wieder eingesammelt als verkauft" erinnerte sich sein Sohn Andreas im Juli 2010 in einem Gespräch mit Welt-Reporter Schelling. Vater Elmar verbrachte „die schrecklichste Zeit in meinem Leben“: Innerhalb von ein paar Monaten waren 90% des Betriebskapitals perdu.
Ende 1985 schrammt das Firmenkonglomerat Pieroth knapp an der Pleite vorbei. Mit ihm standen Österreichs und Deutschlands Winzer am Abgrund. Ihr Wein war praktisch unverkäuflich. 5000 demonstrierten auf dem Mainzer Domplatz demonstriert. (Spiegel 34/85: „Gangster“, schrien Demonstranten, wenn der Name Pieroth fiel, „aufhängen“ und „erschießen.“) Pieroth selbst stritt jede operative Funktion in der Firma ab, Mehrere ehemalige Manager seines Unternehmens widersprachen ihm jedoch und behaupteten, er habe diskrete Absprachen sowohl mit dem rheinland-pfälzischem Landwirtschafts- und Weinbauministerium wie auch mit den Managern getroffen, um den Namen „Pieroth“ aus der ganzen Angelegenheit herauszuhalten. Von Seiten der rheinland-pfälzischen Landesregierung soll angeblich Druck auf die Strafverfolgungsbehörden ausgeübt worden sein, den Fall niederzuschlagen. Ein im rheinlandpfälzischen Landtag eingesetzter Untersuchungsausschuss fand dazu keine belastenden Erkenntnisse.
Ende 1985 stand die Firma vor der Pleite – deutscher Wein war im Ausland praktisch unverkäuflich. Im Inland nur noch schwer. Überlebt hat Pieroth mit Glück, treuer Kundschaft, viel Eigenkapital, das er in die Firma steckte, und schließlich, dank der Wende, der unverhofften Nachfrage aus den neuen Bundesländern. „Davon hat unser Absatz stark profitiert, auch wenn wir es wahrscheinlich ohne die Wiedervereinigung auch geschafft hätten“, so Andreas Pieroth zum Welt-Reporter Schelling. Als Berliner Senator trat sein Vater, vom Wirtschafts- in den letzten zwei Jahren ins Finanzressort übergewechselt, erst 1998 zurück, offiziell wegen „Amtsmüdigkeit“, mutmaßlich wegen Ermittlungen wegen Steuerhinterziehung über diverse Konten, die ein Schweizer Treuhänder für die Pieroths geführt, sich dann aber mit ihnen entzweit hatte.
Gerichtlich geklärt wurde daran nichts. Wie sich im April 1990 herausstellte, hatte Pieroth sich in einer anderen Sparte ebenfalls als Vorreiter betätigt. Spiegel 14/99: „Zweifel an Pieroths Seriosität hat auch die konservative Welt geweckt. Das Blatt enthüllte letzte Woche, der Volkswirt Pieroth, der als DDR-Minister für rasche Einführung der sozialen Marktwirtschaft sorgen will, habe seine Diplomarbeit 1968 an der Mainzer Universität wohl nicht allein geschrieben. Pieroth räumte ein, er habe während des Studiums in einem „Team von Freunden“ gearbeitet und auch einiges „delegiert“. Nun müsse, kommentierte bissig die Münchner Abendzeitung, auch die Frage geklärt werden: „Hat Pieroth beim Diplom gepanscht?“
 
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