Terjung bei Herbert Wehner


Zu Jahresbeginn 1985 jagte ein Taxi über die sechs Kilometer lange Ölandbrücke: Im Fond: der deutsche Journalist Knut Terjung, eigentlich ZDF-Korrespondent in Athen. Sein Ziel: Das Ferienhaus des ehemaligen SPD-Fraktionsführers Herbert Wehner auf der schwedischen Insel. In Eis und Schnee war Terjung an diesem Tag zunächst mit dem Flugzeug nach Kopenhagen, dann mit der Fähre nach Malmö und von dort mit der Eisenbahn bis zur Öland gegenüber liegenden Küstenstadt Kalmar gelangt. Die letzten Kilometer war er damit beschäftigt, bei Schneesturm mit Windstärke 10 einen einsamen Gartenstuhl am Fahrbahnrand zu finden - das mit Wehners Stieftochtergattin Greta vereinbarte Zeichen, wo sich das legendär abgeschiedene Domizil befand.
Terjung hoffte auf ein Interview: Eine Agentin für Autorenrechte hatte ihn dafür gewonnen, einen Sammelband mit Wehner-Interviews herauszugeben, die er um ein aktuelles ergänzen wollte. Nicht von ungefähr, Terjung war in den Jahren von 1974 bis 1982 Pressesprecher der SPD-Bundestagsfraktion gewesen. Im Dezember 1984 hatte Terjung Wehner angesprochen, der hatte ihn dann eingeladen.1983 war Wehner aus dem Bundestag ausgeschieden, krankheitsbedingt, als unzurechnungsfähig galt er aber keineswegs. Das war er aber inzwischen, wegen seiner Zuckerkrankheit litt er jetzt an Multiinfarktdemenz. So kam eines der spukigsten Interviews der deutschen Pressegeschichte zustande.
Terjung schaufelte zunächst den Weg zur Gartenpforte frei und betrachtete den „nach sächsischer Art geschmückte Weihnachtsbaum mit Äpfeln und Strohsternen, darunter die Krippe aus dem Erzgebirge. Nach dem gemeinsamen Mittagessen mit dem Ehepaar Wehner band sich der Hausherr dann eine Schürze um, um abzuwaschen. Mithilfe von Terjung wies er barsch ab: „Gönnen Sie mir nicht einmal mehr das? Das ist doch das einzige, was ich noch zu tun habe, das Geschirr in Ordnung zu bringen.“ Als Terjung sich zurückziehen wollte, sagte er aber „in gemäßigtem Ton:„Das würde ich an ihrer Stelle nicht tun, denn da kommt gleich eine ganz wichtige Sendung; die sollten Sie hören, wenn Sie jetzt Bescheid wissen wollen.“ Terjung nahm wieder Platz:
„Herbert Wehner rückt sich in seinem Schaukelstuhl zurecht, legt seien Taschenuhr auf den Tisch – es ist gleich 13 Uhr – hebt ein altes Kofferradio zwischen die Knie und schaltet ein. Krächzend und nur mit Konzentration zu verstehen, kommt aus dem Gerät, das er fest mit den Händen umschlossen hält, über Langwelle die Stimme eines Nachrichtensprechers vom Deutschlandfunk. Und anschließend gibt es Berichte zum Tage – aus Deutschland und aus aller Welt. Wehner kennt die verschiedenen Stimmen und Namen aus Köln ganz genau.“
Danach schaltete Terjung seinen Kassettenrecorder ein, um Wehner zu befragen. Was der zu Protokoll gab, war so absurd, dass Terjung hätte merken müssen, das Wehner nicht mehr bei Verstand war. Andererseits war er ihn womöglich aus seinen Jahren als SPD-Pressesprecher gar nicht viel anders gewöhnt. Wehner zog hemmungslos über aktuelle Spitzengenossen her. Über Brandt: Der „kennt nur sich und läßt nur die Leute rankommen, mit denen er kann“ und „Ich kenne Brandt. Ich kenne seine Art und Weise, wie er andere Leute behandelt hat und so habe ich mich davon ferngehalten und habe weder mit ihm etwas gemacht, sondern ich habe ihn das machen lassen.“
Über Hans-Jochen Vogel, damals SPD-Fraktionsvorsitzender: „Ich konnte nicht ich kann nicht mit ihm ins Gespräch kommen, das war nicht drin, ich sage nur, das der mich ganz schlimm behandelt hat, und dass er einer war, der mir nie auch nur eine einzige Information gegeben hat – weder vorher, als er noch ein Minister war, noch später.“
Über Johannes Rau: „Das ist zwar ein Mann, der in diesem großen Parteibereich Nordrhein-Westfalen eine Rolle spielt, aber sonst in Wirklichkeit nichts von sich gibt.“
Über Ex-Kanzler Schmidt: „Er verdient viel Geld. Das ist seine Sache. Habe nichts dagegen. Wegen mir kann er massenhaft Geld machen. Er wird auch eines Tages aufhören, weil er dann nicht mehr lebt“.
Und über Lafontaine und Eppler: „Ja, ich hab die abgelehnt und ich würde auch heute nicht mit ihnen so tun, als seien sie die Persönlichkeiten, die nun Arbeiterbewegung auf eine neue Art und Weise zustande bringen.“
Dabei wurde Wehner ständig laut, hämmerte auf den Tisch und stritt frühere Interview-Äußerungen rundheraus ab. Auch sich selbst wollte er kein politisch erfülltes Leben mehr zugestehen: „Das hilft doch nicht mehr. Das lohnt ja nicht. Ich sehe nicht die in der SPD, die so sind, dass man sagen kann: gut, also das dauert noch’n paar Jahre , dann geht das wieder voran.“ Spiegel 10/86 registrierte verwundert: „Bisweilen ist wohl auch Terjung etwas unheimlich. Da beklagt sich Wehner über die Undankbarkeit der SPD und fügt dann hinzu: "Ich habe kürzlich einen, hier ist das Ding, einen Orden bekommen von Polen, aber noch nie etwas Entsprechendes von den Deutschen, nein ...“ Terjung weiß es schließlich besser: „Aber Sie haben doch das Bundesverdienstkreuz bekommen ...“ Wehners knappe Antwort: „Ja.“ Fragen zu Flick-Spenden- und Bestechungsaffäre oder seinem eigenen Einkommen konterte der Alte nur noch mit Gebrüll: „ Ich bin für Arbeiterbewegung, können Sie das nicht begreifen? Arbeiterbewegung war eine Bewegung, die miteinander rang gegen andere, nicht? Das hab' ich nie versucht zu leugnen oder irgendwo ganz andere zu finden.“
Mit einigen Cassetten voll Wehner-Orakeln fuhr Terjung am nächsten Tag wieder ab und fertigte daraus das Eröffnungskapitel für den Hoffmann und Campe-Band „Der Onkel“. Der Verlag gehörte zur Ganske-Verlagsgruppe, die hatte grade das neuen Zeitgeist-Magazin „Tempo“ lanciert, die sich aus dem Wehner-Geschimpfe nun einen Vorabdrucks-Knüller fabrizierte, nämlich Terjungs 60 Seiten lange Buch-Fassung willkürlich kürzte, veränderte und auch unterschlug, dass das Interview bereits 13 Monate alt war. Terjung selber hatte Beschimpfungen Johannes Raus aus seinem Text gestrichen, weil der inzwischen SPD-Kanzlerkandidat war. Spiegel 10/86: „Nun klagt Wehners Ex-Sprecher über "betrügerische Machenschaften"; aus einem „langen, intensiven Gespräch“ seien „nur Fetzen“ erschienen.“ Was so aber auch nicht zutraf: „Die Buch-Version ist - Wehner-konform - ähnlich fetzig. Sie läßt an Terjungs Behauptung zweifeln, Wehner sei damals „in guter Verfassung“ gewesen. Alte Vertraute, die - anders als Terjung - mit dem Onkel ständig in Verbindung stehen, wissen, wie schlecht es um den schwerkranken Diabetiker steht: Er vergißt inzwischen von einem Tag auf den anderen, manchmal binnen Stunden, mit wem er gerade gesprochen, was er eben getan hat. Nur so ist Wehners böse Behauptung zu erklären, er habe zu seinem Nachfolger überhaupt keinen Kontakt. Hans-Jochen Vogel gehört zu jenen (wenigen), die den bitteren Alten regelmäßig besuchen und anrufen. Da verwundert es nicht, dass Wehner letzte Woche zwei Besuchern erklärte, er könne sich an das Gespräch mit Terjung nicht erinnern.“
Die ganze Wahrheit , ob Terjung mit seinem Interview mit ein berechnendes Kalkül verfolgte oder sich deswegen an Wehners Auftreten nicht stieß, weil er eventuell aus seiner Bonner Zeit ähnliches gewohnt war, will sagen, wie Willy Brandt es mehrfach andeutete, die SPD-Fraktion in Wehners aktiven Jahren von jemandem dirigiert wurde, von dem die Unzurechnungsfähigkeit längst schleichend Besitz ergriffen hatte, ist bis heute ungeklärt.
 
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