Besuch vom Wunder – Wissenschaftler

 
 

Manfred von Ardenne, Forscher, Physiker, Erfinder und Tausendsassa aus der DDR, kam gern nach Backnang. Dort wird sein Erbe noch heute gepflegt.

  BACKNANG, im Januar. „Da habbet sie sich hie gsätzet“, sagt Frau Burgel. „De Frau Ardenne hot `n Reißverschluss uffg`mahd, d`Schuh wegschubbt un g`säht: ,Nu sinn mer daheeme!“ Das mit urschwäbischer Grundierung nachgeahmte Sächsisch plaziert in die atmosphärisch sonst einheitliche Szenerie eine unerwartete Volte. Eingesponnen von der Kachelofengemütlichkeit des getäfelten Wohnzimmer – Kabinetts, zwischen folkloristischen Dreschflegeln, Kuhglocken, Zinntellern und Tonkrügen, kramt Ehepaar Burgel in der Polsterecke in Reminiszenzen.
Und an eine spezielle Ost-West-Beziehung: Oft hat es in ihre Backnanger Häusle- Idylle nämlich den DDR-Wunderwissenschaftler Manfred Baron von Ardenne samt Familie verschlagen. Seit den siebziger Jahren erklomm seine russische ZIL – Staatskarosse regelmäßig die schmale Straße zu ihrer verwunschen eingewachsenen Doppelhaushälfte. Und bis heute verwalten die Württemberger Elektro – Mittelständler ein dem illustren Besucher gewidmetes Privatmuseum. Einen autodidaktischen Krebsforscher, Stalinpreisträger und Mitarbeiter an großdeutschen und sowjetischen Atomwaffenprojekten lädt nicht gerade jedermann zu Kaffee und Kuchen. Doch Freundschaft, Ort und Umstände liefern nur allzu bezeichnende Marginalien zu einem der schillerndsten Pioniere der deutschen Technikgeschichte.
Auf seiner Vier-Quadratmeter-Dachbodenkammer in Berlin-Neukölln hatte der Offizierssohn schon nach dem Ersten Weltkrieg Sextanten und Fernrohre aus Zigarrenkistenholz, Spiegeln, Brillengläsern und Gardinenstangen gefertigt, seinen Materialbedarf mit dem Verkauf selbstgebauter Fotoapparate und elektrischer Alarmanlagen finanziert. Im Labor drängten sich Influenzmaschinen, Schlaginduktoren, Lumineszenzröhren- und selbstgebaute Röntgenapparate, mit denen der findige Oberschüler seine Hand durchleuchtete. Die Umgebung terrorisierte er mit Explosions- und Elektrofallen, zapfte Telefonleitungen an, hörte den Morsefunkverkehr bis nach Java ab. Mit 18 Jahren ging er 1924 mit einer Gnadenversetzung nach der Prima vom Neutempelhofer Realgymnasium ab. Berufliches war schon vorgezeichnet: In einem Kellerladen für Elektroschrott beim Halleschen Tor hatte er schon zwei Jahre zuvor, im Dezember 1922, den Radio-Industriellen Dr. Siegmund Loewe abgepasst und für sich eingenommen – seitdem durfte er in seinem Labor hospitieren. Manfred reichte erste Patentschriften ein, einen Jugendgerichtsprozess wegen illegalen Sendens schlug der Amtsanwalt im gleichen Jahr gerade noch nieder. Er half im Vox-Haus bei der Rundfunkgründung, entwickelte für Loewe einen Breitbandverstärker und eine Dreifachröhre für Radios – Modell OE 333 wurde millionenfach verkauft.
  Mit kaum 20 und einem Loewe-Kredit machte er sich 1927 in einer Villa in Lichterfelde-Ost selbstständig. Trotz Ingeniums und technischer Bravourleistungen: Die Patentwerkstatt war ökonomisch ein Fehlschlag, gegen Rechts- und Entwicklungsabteilungen der Konzerne kam er schwer an. Stattdessen manövrierte sie ihn in den Zugzwang ständigen Auftragsbedarfs. So guckte der DDR-offizielle „"Vater des Fernsehens"“ zum Beispiel 1939 in die Röhre, als die Reichpost mit Beginn des Kriegs ihre Fernsehexperimente abbrach. Ihm blieb nur der Ruhm, auf der Berliner Funkausstellung 1931 erstmals eine Kathodenstrahl-Bildröhre öffentlich gezeigt zu haben.
Unausgelastet verfügte Ardenne sich zu Hitlers Postminister Wilhelm Ohnesorge, einem Bekannten seines Vaters aus dem Ersten Weltkrieg, und machte ihm im Privatissimum die Sprengkraftchancen klar, die sich aus Otto Hahns unlängst gelungener Kernspaltung ergaben. Ohnesorge kurbelte daraufhin in Miersdorf bei Zeuthen ein osteigenes „Uranbomben“- Projekt an, zu dem Ardenne ein 60-Tonnen-Zyklotron (etwa 700 KZ-Häftlinge hoben Bunker dafür aus), einen 1-Million-Volt-Van-der-Graaf-Generator und einen Isotopentrenner mit 2-Tonnen-Magnet, ringförmigem Trennmagnetfeld und zentral angeordneter Plasma-Dampf-Ionenquelle beisteuerte. (Der Wirtschaftshistoriker Rainer Karlsch vertritt seit Jahren die These, kurz vor Kriegsende seien dem Ohnesorge-Team zwei kleine Nukleartests geglückt.) Ardenne bot Göring auch ein Radarwarnsystem an, vereinbarte aber kurz vor Kriegsende mit den Wissenschaftskollegen Hertz und Thiessen, sich den Russen bei Eintreffen als Konsortium anzubieten: Die Flucht aus Berlin hätte sein kostspieliges Inventar preisgegeben. So dirigierte Thiessen einen T 34 vor Ardennes noch guterhaltenes Institut. Sowjetische Experten hatten ihn als fünftbesten deutschen Physiker eingestuft.
  Während er in Moskau mit Staatssicherheits-Boss Berija verhandelte, verpackte man in Berlin außer Atom- und Laborgerät auch sein für Siemens gebautes Elektronenrastermikroskop in Holzkisten und verfrachtete alles nach Suchumi ans Schwarze Meer. Als Oberhaupt einer Privilegiertenkolonie von Mitarbeitern und Kriegsgefangenen reicherte Ardenne dort nun Uran für Stalins Atombomben an. Sein Verfahren erwies sich aber als unergiebiger als andere, darum komplimentierte man ihn – zuvor unter anderem mit dem Stalinpreis aufgewertet – in Ulbrichts DDR zurück.
Im Jahr 1955 bezog er sein Refugium in Dresden-Weißer Hirsch, Plattleite 27/29, schmauste mit Ulbricht, der Staatsaufträge mit Abnahmegarantie bot und eine große Limousine übergab. Als größter Privatunternehmer der DDR warf Ardenne sich nun neben Mehrkammer-Stahlöfen und Knautschzonen-Autos auch auf phantastische Pläne, ging etwa das Zentralkomitee der SED um Aufträge für gewaltige Laserkanonen an, die angriffssichere Strahlenzäune um ostdeutsche Großstädte gewährleisten sollten. Als Kreuzung aus Mini-Magnat und Daniel Düsentrieb, geschützt von DDR-Hoffnungen auf weltmarktfähige Patente, deutete er seinen Beitrag zum atomaren Patt nun als Rettung des Weltfriedens, den Sozialismus als effektivste Bestenauslese und schritt seinen 500 Angestellten bei Mai-Demonstrationen voran. Als Ulbricht und Ministerpräsident Otto Grotewohl 1959 zur Anerkennungs-Weltreise aufbrachen, war er einer der drei Begleiter: Nasser verlieh ihm einen Orden; Nehru aß mit ihm zu Abend, Ho Tschi Minh überreichte ihm 200 Geburtstagsrosen; auch Tschou En-lai und Mao Tse-tung gaben sich konziliant. Seit Mitte der Sechziger trieb er im Verbund mit dem West-Berliner Medizinnobelpreisträger Otto Warburg eine „Krebs-Mehrschritt-Therapie“ mit künstlicher Temperaturerhöhung und ‚Glukose-Infusion voran. Wie er in seinen Memoiren beklagt, von der etablierten DDR-Medizin häufig sabotiert, die für ihr Erprobungssoll nur ohnehin moribunde Patienten herausrückte.
In der Gratulationscour zum 65. Geburtstag reihte sich am 20.Januar 1972 dann Familie Burgel ein: Gustav Burgels Vater Richard betrieb sein Backnanger Radiogeschäft seit den zwanziger Jahren. Von Anfang an hatte er ausrangierte Radios und technische Apparaturen gesammelt und eine ständige Ausstellung zusammengetragen. Aus dem Schreiben erfuhr Ardenne, dass der Verkauf der Loewe-Radios „den Grundstein für Radio-Burgel gelegt“ habe und man einige Geräte dieser Ära noch aufbewahre. Mitte Juni 1972, während seiner nächsten Westreise, dirigierte Ardenne seinen Chauffeur erstmals nach Backnang. Die telefonisch angemeldete Visite brachte zunächst Aufregung: Burgels rätselten, ob der Gast womöglich erwarte, mit Hofknicks begrüßt und mit „Herr Graf“ angeredet zu werden. Man behalf sich mit „Herr Professor“ und nahm ihn herzlich auf.
  Beim 50. Geschäftsjubiläum 1974 war er der Ehrengast. Beinahe im Jahresrhythmus, teils allein, teils mit Familie, kam er zu Übernachtungsbesuchen wieder, ließ sich Frau Burgels Spätzle schmecken, veralberte sein Funktionärsgefährt (Verbrauch: 30 Liter auf 100 Kilometer) als „Lkw im Frack“ und beklagte zu vorgerückter Stunde Beschaffungsprobleme, die seinen staatlich konzessionierten Ein-Mann-Kapitalismus inkommodierten. „Wir können nicht mit dem Westen konkurrieren“, erfuhren die Burgels, „der Russe nimmt das ganze Geld!“ Integrierte Schaltkreise, die im Westen drei Mark kosteten, müsse er für 100 Mark Ost abnehmen. Honeckers Anfangselan, letzte Privatbetriebe der DDR zu eliminieren, hatte er zwar austricksen können. Auch 1973 nach einer Betriebsprüfung fällige Steuernachzahlung bog er in ein nicht tilgungspflichtiges Staatsdarlehen ab. Doch innovatives Potential gab der technische Standard der DDR nun kaum noch her. Wie sich in Burgels Wohnstube enthüllte, blieb als Weltmarktoption nicht viel mehr als die vergleichsweise leicht machbaren Heilverfahren, „Sauerstoff-Mehrschritt-Therapien“ und Zerbeißkapseln für Infarktgefährdete.
Nach ein paar Jahren duzte man sich – die Damen eher als die Herren. Die Backnanger, im Bekanntenkreis schon als „Salonkommunischte“ angepflaumt, bekamen Gegeneinladungen nach Dresden. Mitgenommene Südfrüchte und West-Extras, für die Ardenne-Kinder gingen bei Grenzkontrollen glatt durch, auch eine von der Firma Burgel gelieferte Spezialantenne für Westempfang konnte anstandslos passieren. Man speiste auf der Moritzburg, fuhr zu Ausflügen nach Klingenthal im Erzgebirge. Bei der Ankunft zum 80. Geburtstag trudelten die Burgels vor dem Erfinderschlösschen in einem Schwarm aufgescheuchter Volkspolizei: Direkt vor ihnen war Günter Mittag, ZK-Sekretär für Wirtschaftsfragen, eingetroffen.
Burgels schien nun eine bleibende Ehrung angemessen. Für Montag den 2. November 1987, luden sie daheim zur Feierstunde: „Durch das Entgegenkommen von Herrn Dr. h. c. mult. Manfred von Ardenne dürfen wir dem von unserem Vater aufgebauten Rundfunk-Museum seinen Namen geben.“ Der Namenspatron stiftete ein altes Wellenmessgerät und dankte brieflich, „dass ich mit meinem Namen dem Andenken meines Freundes aus der Pionierzeit des Rundfunks und Fernsehens, Richard Burgel, dienen durfte. Mit der Schaffung dieses einzigartigen Museums wurde eine Forderung unserer Zeit erfüllt.“
Leicht zu finden ist die Stätte nicht. Als mächtiger Lindwurm des Massenkonsums wälzt sich die Sulzbacher Straße Richtung Strümpfelbach aus Backnang heraus bis zum Hintereingang von Radio-Burgels Reparatur-Service, bis heute Gustav Burgels Arbeitsplatz.
Im grauen Elektriker-Kittel führt er, weit über 80 Jahre alt, ab und zu angemeldete Besucher durch Labyrinthe von Stellregalen und Registraturschränken zum Seitenturm hinauf. Ganz oben bergen zwei Räume ein verblüffendes Arsenal: Dutzende Dampfradios und Bakelitempfänger, die NS-Versammlungströte „Kortwey Maximus“, „Kommissbrot“- Radios aus der Philips-Kriegsproduktion, Kofferradios mit Heizbatterie. Der schwenkbare Wega-Bildschirm ist ebenso magaziniert wie der erste Video-Recorder. Jung Ardennes Stereo-Grammophon mit zwei versetzten Tonabnehmern und separaten Schallausgängen und ein Edison-Walzen-„Dictaphone“ von 1912.
Seine Ardenne- Memorabilia erläutert der Hausherr in liebenswürdigstem Schwäbisch: Dokumente von Festakten in Ardennes Anwesenheit, Dankschreiben, wie das für ein Gemälde, des Ardenne zusammen mit Marconi und Hertz als eine Art Trinität im Firmenzeichen Radio-Burgels präsentiert, Fotos und Berichte von der Video-Schaltkonferenz, mit der das Backnanger ANT-Unternehmen im August 1989 auf der Funkausstellung sein selbstwählfähiges Vorläufer-Breitbandnetz propagierte und Ardenne dank einer Sondergenehmigung von Berlin aus mit Gustav Burgel in Backnang über die sterbende DDR parlierte.
Auch seine Antwort auf die guten Wünsche zum 90. liegt aus. Vier Monate später mussten die Burgels zu Ardennes Beerdigung fahren. Sein Andenken halten sie bis heute hoch, etwa durch eine Große Gedenkausstellung zum 100. Geburtstag. Und als man Herrn Burgel vor ein paar Jahren die „Backnanger Kanne“ für verdiente Bürger antrug, bat er sich eine Manfred-von-Ardenne-Straße aus. Die gibt es inzwischen, sogar eine „Manfred-von-Ardenne-Allee“. Ihre Schilder ragen allerdings weitgehend ins Leere, sinnigerweise liegt sie in einem noch fast unbebauten Gewerbegebiet.