Die Flöte für das deutsche Volk

 
 

Auf Burg Sternberg streiten zwei Verbände um das Vermächtnis der Blockflöte. Am jugendbewegten Innerlichkeitsguru Peter Harlan kommt dabei niemand vorbei.

  In Frank Jendrecks Empfangsbüro herrscht das übliche Kommen und Gehen: Der Catering-Service eines nahen Hotels hat seine Bierkisten und Bistrotische vom Vorabend geholt und meldet sich ab, ein pensionierter Lehrer möchte für seinen Heimatverein eine Führung buchen, gleich wird eine Grundschulklasse anrücken, die mit Instrumentenbauer Walter Waidosch und dem walisischen Teilzeit-Hausmeister McCall finnische Kantelen basteln will. Jendreck, hochgewachsen, mit grauem Hemd, dunklen Jeans, Zöpfchen, Nickelbrille und Kinngrübchen eher der Typ des gewieften Campus-Veteranen, behält in seinem vollgeräumten Schalterraum trotzdem die Übersicht, fertigt am Telefon einen säumigen Praktikanten ab und beobachtet dabei durchs Fenster eine Gruppe auf dem Hof. Nur für die ist der gelernte Kunsthistoriker nicht zuständig, die „Klangdemonstration“ im Kellergewölbe veranstaltet der Konkurrenzverein. Normaler Büroalltag – allerdings mitten im Wald in einer Burg auf 315 Meter Höhe. Auf dem Dörenberg im Lipperland zanken sich Jendrecks Landesverbands-Verein „Burg Sternberg“ und der rivalisierende Verband „Musikburg Sternberg“ um einen seltsamen Hort: das Vermächtnis der deutschen Blockflöte.
Zu diesem Nimbus ist das geschichtsträchtige Gemäuer, 1245 von den Grafen Sternberg errichtet, im Jahr 1945 gekommen. Nach Stationen als gräfliches Forstamt, Gastwirtschaft, Nazi-Aufmarschplatz und nassfeuchte TBC-Hölle für russische Kriegsgefangene nutzte man es bei Kriegsende als Luftwaffenersatzteillager. Aus den Niederlanden zur Wachmannschaft abkommandiert wurde dorthin Peter Harlan, ein jüngerer Bruder des „JudSüß“-Regisseurs Veil Harlan.
Peter Harlan war in den Jahrzehnten zuvor eine Szeneberühmtheit: als Aktivist der „Jugendmusikbewegung“, einer volkspädagogischen Unterabteilung der bündischen Jugend. In der Burg sah er ideale Möglichkeiten für seine Ambitionen. Beim Herannahen der Amerikaner versteckte er sich bei einem Gärtner. Schon in den ersten Nachkriegswochen kam er mit maßgeblichen Stellen überein, ihm die Burg zu verpachten, um eine „grade in Notzeiten so notwendige Stätte hochstehender Kultur“ zu begründen. Dafür gab es beachtliche Referenzen. Familie Harlan war im Berliner Kulturleben von Kaiserzeit und Weimarer Jahren eine erste Adresse: Vater Walter Harlan war Dichter und Dramaturg am Lessing-Theater, häufig Gast im Haus waren Gerhart Hauptmann, Historiker Hans Delbrück, Theologe Alfred Harnack und Regisseur Heinz Hilpert. Walter Harlan hatte 1896 auch die Urgruppe des „Wandervogels“ in Berlin-Steglitz mitbegründet. Der 1909 von Hans Bräuer herausgebrachte „Zupfgeigenhansel“ war schon für Sextaner Peter eine Offenbarung. Im Anschluss an eine Reise nach Weimar, bei der er im Goethehaus ein verstimmtes Klavichord vorfand, stand für ihn fest, sich alter Tonkunst zu widmen.
So fing er 1919 zum Entsetzen des Vaters bei Obermeister Ernst Kunze im erzgebirgischen Markneukirchen als Gitarrenbauer an. Für die Jugendmusikbewegung mit ihren heute vergessenen Vordenkern Fritz Jöde, Walter Hensel und Georg Götsch hatte sich die Rückbesinnung auf das Echte und Wahre weit über den Klampfenhorizont ausgedehnt. In Volkslied und Denkmälern der alten Musik sahen sie Ansätze zur Überwindung von Virtuosenkult und Gesangvereinsmuff. Zurück zur Laute, zur Barockorgel, zur Polyphonie eines Heinrich Schütz hieß ihr Programm, zurück zu exakt rekonstruierten Gamben, Radleiern und Spinetten, wie sie das „Syntagma Musica“ das frühbarocken Komponisten Michael Prätorius beschrieb. Harlan, der sein Lehre nie abschloss, stieg geschickt in dieses Spektrum ein: mit dem Image des Handwerkers und als wendiger Vermittler, der die Klänge durch erfolgreiche Konzerttourneen propagierte und Anregungen aus der Musikwissenschaft durch seine Firma im „sächsischen Cremona“ Markneukirchen sofort umsetzen konnte.
  Die erste Begegnung mit der bis in die Zwanziger vergessenen Blockflöte hatte ihn wenig beeindruckt. Der Musikwissenschaftler Gurlitt zeigte ihm fünf Repliken von alten „Kinsecker Flöten“ aus dem Germanischen Nationalmuseum. 1921 hatte er sie sich nachbauen lassen, um den Klangcharakter einer Prätoriusorgel zu studieren – sie waren unbrauchbar. Erst als Harlan Ende August 1925 im Auftrag der preußischen Regierung das Haslemere Festival des Musikforschers Arnold Dolmetsch in Surrey besuchte, besann er sich anders: Dolmetsch hatte auf einer Flöte Auszüge aus Bachs „Brandenburgischem Konzert Nr. 4“ angestimmt. Mit Querflötenmacher Jacob Kurtz tüftelte er nun in Markneukirchen, bis Pfingsten 1926 eine spielbare Flöte fertig war. 1927 boten die „Harlan-Werkstätten“ auf der "Ausstellung für alte Musik" in Baden-Baden zwischen Klavichorden, Gamben, Fiedeln und Knickhalslauten erstmals auch Blockflöten ab vier Reichsmark an. Es war die erfolgreichste Wiederbelebung der Musikgeschichte: In Markneukirchen schulten viele Instrumentenbauer auf Flöte um, Harlan beschäftigte zeitweilig 43 Mitarbeiter; die kleinen Holzröhrchen hielten den Ort aus der Weltwirtschaftskrise heraus.
Puristen sahen sein Treiben kritisch: Zum einfacheren Gebrauch hatte er eine „Deutsche Griffweise“ entwickelt, die auf historisch korrekte Gabelgriffe verzichtete. Er wollte vor allem ein „Volksinstrument“ anbieten, mit dem man „unbefangen musizieren und improvisieren“ konnte, ein Medium zur „Rückbesinnung auf wahrhaft volkstümliche Musik“ – ganz gemäß dem Wandervogel-Ideal, das mit dem Ursprünglichkeitsreiz von Tandaradei und „Rosenstock, Holderblüh“ Gemeinschaftsgeist mobilisieren und die Entfremdung in der Industriegesellschaft aufheben wollte.
Auf dem Niveau des Laien-Schrumm-schrumms kam dabei viel hausbackenkrampfige Tümelei heraus. Harlan führte der Anhängerschaft die Möglichkeit, sich mit derart inszenierter Musik alter Meister über die Gegenwart einfach hinwegzusetzen, allerdings beeindruckend vor. Ausschlaggebend für den Blockflötenerfolg war aber, dass es der Jugendmusik-Avantgarde gelang, die Schulmusikerziehung vor 1933 zu infiltrieren.
  Einige Bewegungs-Vertreter schwenkten später bei den Nazis ein, andere wurden von ihnen aus den Ämtern gejagt. Harlan, den Guru, Zunftmeister und fahrenden Sänger, ließ man die Innerlichkeit weiter pflegen: „Bald zur vielsaitigen Theorbe, bald zur uralten Bauernleier greifen“ sah ihn Hans Heinrich Moer in einer Konzertrezension 1937, „köstliche Cembali und Spinette auftönen, Blockflöte und Schalmei blasen und die stille Laute zwicken“. Bis tief in den Krieg oblag ihm Instrumenten-Sammlung und Mittlertum, von 1943 an holte ihm die Wehrmacht die Gesellen aus dem Betrieb. Die wohl engste Berührung mit dem Nationalsozialismus spielte sich im vorletzten Kriegsjahr in einem Arbeitsdienstlager in Ternsee bei Mittenwald ab: Unter Leitung seines alten Bekannten Karl Frank bauten Männer des Reichsarbeitsdienstes dort eine von ihm erdachte „Volksgeige“ und lernten, darauf zu spielen. Mit dieser Kniefiedel, einem eckigen Monstrum mit Gitarrenbünden, bildet ihn der „Illustrierte Beobachter“ (15/1944) ab. Ein Radiokonzert mit seinen Volksspielleuten verlief aber so kläglich, dass er von weiteren Versuchen absah. Schon bald danach musste er die Burg Sternberg mit bewachen. In deren Weserrenaissance-Kulisse hatte bis kurz zuvor noch ein ehemaliger Postschaffner, Alt-Parteigenosse und Militärrentner seines Auskommen gesucht: Gastwirt Carl Kröger, der in erhaltenen Aktenstücken ständig um Pachtstundung nachsucht. Nur war Kröger tot, seine Witwe hauste noch in einigen Gemächern und wollte ihren Kiosk weiter betreiben. Harlan vergraulte sie bis vors Burgtor, im Verbund mit höheren Stellen trotzte er auch Dorfbürgermeistern, die ihre Flüchtlinge zu ihm abschieben wollten, indem er „Kriegsversehrte“ in den Räumen pro forma Musikalien basteln ließ.
Bis 1948 blieb die Familie unvollständig: Frau Harlan brachte in Markneukirchen Hausstand und Instrumente zur Bahn, Harlans Söhne und deren Gattinnen schafften alles per Bollerwagen auf Waldwegen zur Burg hinauf. Hinter der repräsentativen Staffage war es kein Vergnügen, in der klammen Feste zu leben, erinnert sich eine Harlan-Schwiegertochter: „Vor den Fledermäusen im Rittersaal habe ich mich immer gegraust.“ Mehrfach riss sie aus. In den Nachkriegsjahren musste Harlan sich mit schlechtem Kistenholz behelfen, unter den Alt-Wandervögeln etablierte sich Burg Sternberg – in der man auch eine große Jugendherberge einrichtete – jedoch als eine Art Kraftpol der Bestärkung: Die alten Jugendmusiker kämpften damals den letzten Kulturkampf, Vormann Jöde etwa versuchte, gegen Jazz, Kommerzialisierung und Rock ´n´ Roll mit „Gemeinschaftssingen für Jedermann“ auf öffentlichen Plätzen in Großstädten anzugehen. Im Burgarchiv belegen Dokumente, wie der alte Geist auch Junglehrer noch ergriff und auf ein eigenes Harlan-Instrument sparen ließ. Illustrierten-Reportagen fassen ihn aber schon 1952 als Kuriosität auf – ein faunischer Vagant, der sich in Lederwams und Loden fotografieren ließ, die erwachsenen Söhne in kurzen Hosen neben sich.
  Prinzipienfest blieb er auch gegenüber der Schallplatte: Bis zu seinem Tod 1966 hat er kein Tonstudio betreten, den Harlan-Klang dokumentieren nur einige Privat-Mitschnitte. Bis in die achtziger Jahre machten die Söhne mit Instrumentenbau und Klangdemonstrationen auf Sternberg weiter, dann ihre Witwen. Zum Schluss unter bizarren Bedingungen: In die aufgegebene Jugendherberge lagerten umliegende Gemeinden ihre Asylanten aus; während letzte Beflissene zur Harlan-Oberburg pilgerten, brannten im unteren Hof Autoreifen, und das Abendbrot brutzelte am Spieß. Ende der achtziger verließen beide Witwen die Burg, die meisten Instrumente bleiben, 1998 wurde die Burg vom Lippischen Landesverband erworben.
Der Subventionsbedarf des Ortes brachte bald kommunalpolitischen Zwist. Um die Burg zu halten, konstituierte sich Anfang der Neunziger ein erster Trägerverein, „Musikburg Sternberg“, der außer einem Kulturprogramm Veranstaltungen vom Kinderfest bis zur Trauung im „Hochzeitssaal“ anbot und ein Restaurant betrieb. Diesen Verein soll Mitte der Neunziger dann eine Seilschaft von Gauklern und Kleinkünstlern aufgerollt haben, die geschlossen eintrat und den Vorstand okkupierte, um sich Sternberg als Versorgungsbasis zu sichern. Es kursieren aber auch Lesarten, die im zweiten Verein einen Postenbeschaffungs-Klüngel im lippischen Landesverband sehen.
Fest steht: Das von Büroleiter Jendreck und Instrumentenbauer Waidosch 2004 initiierte Gutachten des Museumsfachmanns Klaus Martius machte unhaltbaren Zuständen ein Ende. Über Jahre hatte der Landesverband Lippe die mehr als 180 alten Instrumente zum Teil im früheren Jugendherbergs-Speisesaal direkt über alten Heizkörpern angebracht, der Großteil des Bestands war marode. Jendreck und Waidosch bastelten aus Supermarkt-Hängewänden und gebrauchten Lampen aus dem Lemgoer Schloss ein provisorisches Museum und würgten allmählich den „Musikburg“-Verein ab. Inzwischen erwirtschaften sie ungefähr ein Drittel des jährlichen Subventionsbedarfs, die „Musikburg“-Pachtverträge laufen Ende des Jahres aus. Wieder spielbar sind allerdings erst etwa zehn Prozent der Instrumente. Für Instrumentenbauer Waidosch bleibt noch viel zu tun.