Die Ballade von Peter Herbolzheimers kranken Familienangehörigen & Geschwistern 1963

   
 

(meinem Bruder Andreas freundlich zugedacht)

Der Jazzer Peter Herbolzheimer kam erschöpft von der Session nach Haus –
einer Mietskaserne in Köln-Krötz, fünf Stockwerke, nach hinten raus.

An den Fahrrädern in der Durchfahrt vorbei, sah er, oben brannte kein Licht.
Ihm schwante schon, als er im Treppenhaus war, irgendwas stimmte da nicht.

Die Tür aufgeschlossen, dann so wie immer, Hut und Mantel an die Garderobe.
Nanu, warum heut kein Geschrei seiner Frau, warum gar kein Kindergetobe?

Irritiert sah der Weltklasse-Posaunist gleich in allen Zimmern nach:
Frau Gerda und die drei Kinder, die lagen ja allesamt flach!

Zwieback und Magen-Tee hatte die Mutter den Kleinen ans Bett gebracht,
und es sich dann selbst, so gut es ging, mit dem Heizkissen bequem gemacht.

„Was ist denn heute bloß los mit euch?“ sagte Herbolzheimer zu seiner Frau.
„Ich weiß nicht, erst wurde den Kindern schlecht, dann auch mir ganz fürchterlich flau!“

Im Flur klingelte das Telefon – wer ruft denn jetzt noch an?
Herbolzheimer nahm den Hörer ab, es war sein Schwager dran.

„Was bei euch auch? Ich werd verrückt! Das gibt es doch wohl nicht!“
(Gestresst nahm der massige Musiker die Brille dabei vom Gesicht.)

„Ja, du verstehst ganz richtig!“ rief er, „Von wegen kleiner Infekt!
Auch hier ist grade Holland in Not - alle haben sich angesteckt!“

Aber auch bei Andrea, erfuhr er nun, der anderen seiner zwei Schwestern,
sie wohnte in Dortmund-Sörgelich, lag alles darnieder seit gestern.

Die Männer unkten viel hin und her in Richtung verdorbenes Essen…
Aber wann hatten denn alle Herbolzheimers zuletzt was zusammen gegessen?

„Bei Tante Wimma in Iserlohn?“ „Mensch, das war doch vor anderthalb Jahren!
Nach dem Unfall von Onkel Giselher sind wir alle dorthin gefahren.“

Schließlich beklagte sein Schwager noch kurz die Verzwicktheit der Situation:
„Krieg’ um die Zeit mal einen Arzt!“ schimpfte er ins Telefon.

Nun ging Herbolzheimer wieder zu Gerda ans Bett: „Ich hab’ grade mit Wolfram gesprochen.
Bei Heike und Uli und Timo und Sven ist es auch schon ausgebrochen.

Und Andrea und Anhang in Sörgelich hatten auch den Doktor nötig.“
Leicht ironisch klang dies, seine Schwester war als Krankenschwester tätig.

„Dann scheint es ja wirklich was Ernstes zu sein!“ „Worauf du dich verlassen kannst!
Wenn man sonst mit Wolfram telefoniert, wird man bloß dauernd angeranzt!“

Unaufschiebbar meldete sich jetzt der Magen – Herbolzheimer ging in die Küche.
Beinah anheimelnd hingen hier in der Luft noch die abgestand’nen Gerüche.

Etwas Gulaschsuppe war noch da, Kohlrouladen und Frikadellen.
Klar, Gerda war heute nicht dazu gekommen, ihm schnell noch was warm zu stellen.

Mürrisch machte Herbolzheimer sich einen Steh-Imbiß zurecht,
überdachte die Lage, langte zu: Na, wenigstens ihm war nicht schlecht.

Viel später erst hat sich die Ursache dieser Erkrankung herausgestellt.
In einer Talkshow der 80er Jahre hat er auch mal davon erzählt:

„Damals saß beim Gesundheitsamt Meggersheim ein geschasster Trichinenbeschauer,
Herr Wöchtmann, den schickten sie auf Inspektion und der schaute auch meist nicht genauer,

wenn er dafür etwas Bargeld sah, hat meist anstandslos bescheinigt,
speziell bei der Firma MIBROMEX, die hat Feinkostläden gereinigt.

(Noch mit uralten Kalfaktoren-Püstern, doch Wöchtmann hat’s niemals moniert.
Dabei wurden oft offene Bonbongläser am Tresen mit „desininfiziert“.)“

Auch „Oma Wippchen“ Herbolzheimer kaufte etwas von solchem Konfekt.
Den bekamen die Sprösslinge ihrer drei Kinder ins Osterpäckchen gesteckt.

Nicht nur Herbolzheimers, hunderte haben derlei Bonbons zu sich genommen,
je nach Auftragslage von MIBROMEX sind sie häufig in Umlauf gekommen.

Viel Aufsehen um Wöchtmanns Verhaftung lag später nicht im Verwaltungsint’resse.
„Entsprechend“, so Herbolzheimer, „stand so wenig bis nichts in der Presse.“

Auch Fernsehen und Illustrierten hätten auf Berichterstattung verzichtet:
„In gewissen Hamburger Redaktionen wurde damals noch anders gewichtet.“

Doch an jenem Abend stand Herbolzheimer noch lang auf dem Wohnungsflur
und hörte im Dunkeln das Atmen der Kinder, das Ticken der Küchenuhr.

Und ging schließlich rauchen auf dem Balkon, schon damals ging er in die Breite.
Den Kinderwagen, der dort stand, den schob er darum beiseite.

Köln-Krötzer Tristesse lag vor ihm im Hof: Zinkwanne am Teppichpfosten.
Verloren zwei Spatzen beim Heizkörperschrott. Mülltonnen kurz vorm Verrosten.

Die „Top-Secret-Revue“-Tour für Mai ’63? War wahrscheinlich damit geschmissen.
Auch beim Werbefunk wegen dem Hustendrops-Intro würde er anrufen müssen.

Und die Kirchentags-Stomp-Suite? Die Pelzmodenschau? Um Kölns Postboten-Ball war es schade…
(Und die „WDR-Hothouse-Jamboree“ im Jugendgefängnis Kerkrade.)

Irgendwo trug der Nachtwind Music-Box-Fetzen aus der Kneipentür hinaus.
Herbolzheimer nahm es sehr mißmutig wahr: So klang der Abend aus.