Tränen des Vaterlands

   
  „Was du schreibst, klingt ziemlich heavy!“
sagte Jule Neigel mir im Bahnhofsrestaurant,
„andre fahren längst ’nen dicken Chevy,
und du machst dich immer noch für Peanuts lang.“

„Ach, und du und dieser Synergieberater?
Hat denn da noch gestern Abend was geklappt?“
fragte ich, „Erst spielt ihr Boulevard-Theater,
und dann hat ihn die Brünette sich geschnappt…

Dein Versich’rungsschutz ist lange abgelaufen…
Und dein Autoschlüssel…“ Doch sie unterbrach:
„Deine Chuzpe wirft mein Kismet über’n Haufen!
Denkst du, ich zähl mit dem Eierlöffel nach?“

Auf den Gleisen arrangierten sie die Güterzüge,
zwei Rangierloks flitzten ständig hin und her.
Ach, man kennt das ganze Treiben zur Genüge,
schon nach kurzer Zeit verfolgt man es nicht mehr…

Nur daß Eisenbahner frierend auf dem Bahnsteig saßen,
ganz vom Eishauch ihrer Atemluft umweht,
sah ich durch die Scheibe. Und wie sie Bouletten aßen
und dann weitermachten mit dem Reinigungsgerät.

Gestern noch im Souterrain der kleinen Studio-Bühne
hatt’ ich Jules neuste Pantomime angesehn:
„Twist mit Shakespeare“, ziemlich schräge Schiene,
alles sehr gewollt und trotzdem schmerzhaft schön.

Kellner fingen an, die Tische einzudecken.
Jule sah mich an, trank ihren Tee – und schwieg.
Lautsprecherdurchsagen und das Klappern von Bestecken,
Kaufhausgong und öde Hintergrundmusik…

Und der Drehtürwirbel in der Eingangshalle
quirlte Reisende in buntem Wechselspiel,
in den Schaufenstern gespiegelt als prismatische Kristalle –
mir war’s an Verflüchtigung schon fast zu viel…

Durch Gardinenlappen, Rauch von Zigaretten
schien die Wintersonne, sichtlich indigniert,
auf’s Vexierspiel in den Plexiglasfacetten
unsres tristen Aschenbechers fokussiert…

Wie Magnolienblüten in TV-Reklamen
sich sanft öffnen, so verschwamm der Nachmittag
nun verklärt zu allegorischen Bestandsaufnahmen,
die kein Mensch auf Anhieb zu versteh’n vermag…

Ich sah, wie die Königin der Nacht losdüste,
mit dem Ford Granada durch die Walachei,
zu den leeren Kathedralen in der Wüste,
ganz aus Draht, Wind, Staub, Vergessen und Vorbei…

Schwarzer Flügelschlag und Strahlenkranz von Dolden,
Coca-Cola spritzte aus dem Wasserhahn
in Zyklopenaugen, die die Lottozahlen golden
an die Mauern Rotterdams geschrieben sahn…

So wie Gnomen, die in Rosenholz geschnitten,
sich verwandeln zu Karfunkelstein,
fügten Coloradokäfer sich inmitten
der gesprungnen Eisenfassung wieder ein…

Ein Verwirrspiel turbulentester Visionen
mit der höchsten Eisenbahn als Grundidee!
Doch gefragt, passt das zu Bahnstationen
und Jule Neigel, muß ich sagen: Nee.

Ach, und jene, die da draußen standen
– wartend, fröstelnd, hoffend auf den Zug –
war’n doch Menschen auch und sie empfanden
schon das Innewerden ihres Tags entrückt genug…

„Du verteufelst“, sprach sie, „ich will unterhalten…
Doch du wärst der, der mir’n Song darüber schreibt,
wie sich Länderchefs bei Bertelsmann einschalten,
was den Teufel mit dem Beelzebub austreibt…“

„Glaube mir, der Vogelmensch kommt wieder!“
bat sie und ich fragte: Ach? Als Lebemann?“
„Nein, das Weltall nimmt er unter sein Gefieder!“
„Na“, sprach ich, „wenn er sich’s leisten kann…“

„Dies ist nicht das Land der… – Kontrolleure!“
rief sie wütend, rannte raus auf den Perron,
stieg auf’s Bahnhofsdach, die wilde Jazz-Rock-Röhre,
ritt darauf für alle Zeit davon…