Arnold Haus russischer Urgroßonkel

 
  »Es gibt unter uns gegenwärtig einen bemerkenswerten Schriftsteller, eine Zierde unserer Zeit, einen gewissen Kosma Prutkov. Sein einziger Mangel besteht in seiner unbegreiflichen Bescheidenheit: bisher hat er noch keine vollständige Ausgabe seiner Werke herausgegeben.«
Fjodor M. Dostojevskij, »Winterliche Bemerkungen über sommerliche Eindrücke «, 1863.
  Wenedikt Jerofejev, der Dichter der »Reise nach Petuschki«, wurde in einem Interview zu einer Selbsteinschätzung genötigt: »Und wenn man dir vorschlagen würde, deinen Platz im Pantheon der Großen zu definieren, wo würdest du dich einreihen: zwischen Humer und Epikrit – oder ...? « Er antwortete: »Zwischen Kosma Prutkov und Voltaire.«
Erwähnter Prutkov ist recht eigentlich eine Kunstfigur, die gleich von mehreren ambitionierten Künstlern mit bizarrem und höchst bemerkenswertem Leben erfüllt wurde. Da war zum einen ein entfernter Verwandter des großen Leo Tolstoj, nämlich: Graf Aleksej Konstantinovic Tolstoj (1817-1875), der als Dramatiker, Lyriker und Novellist von den Russen bis heute als literarisches Halbschwergewicht eingeschätzt wird. Dazu kam Aleksej Michailovic Zemcuznikov* (1821-1908), sein Vetter, ein Herr, der »sich ebenfalls mit Dichten abgab«, wie ein deutsches Standartwerk zur russischen Literaturgeschichte anmerkt; immerhin so passabel, daß die Russen seine Gedichte hin und wieder auflegen. Außerdem waren auch noch Zemcuznikovs Brüder Vladimir und Aleksandr hin und wieder am »Unternehmen Prutkov« beteiligt.
Über hundert Jahre bevor F. W. Bernstein, Robert Gernhardt und Friedrich Karl Waechter 1966 in Frankfurt ihren Arnold Hau aus der Taufe hoben, erfanden besagte Herren einen Dichter, um ihm ihre Parodien, Aphorismen und Nonsensgedichte unterzuschieben, und statteten ihn dazu mit einer Biografie und sogar einer Porträtzeichnung aus, die ein weiterer von den Zemcuznikov- Brüdern, ein echter Kunstmaler, wiederum im Verbund mit zwei Berufskollegen, anfertigte.
Die Späße dieser Vetternwirtschaft kennt und zitiert seitdem jeder gebildete Russe, unabhängig von seiner politischen Gesinnung und in jedem Zusammenhang, der sich dazu anbietet; die liberale »Moskovskie Novosti« etwa würzte im Juli dieses Jahres mit seinen Versen einen Artikel über die versuchte Besetzung des Moskauer Fernsehturms durch vereinte antisemitische und stalinistische Demonstrantengruppen. Die weit mehr als 100.000 Emigranten, die sich nach dem ersten Weltkrieg in Berlin durchschlugen, vermißten ihn so sehr, daß sie sich in ihren Verlagen zwei schmale Prutkov- Auswahlbändchen nachdruckten. Der sowjetische Literaturhistoriker Buchstab schließlich weist uns auf einen weiteren Prutkov-Fan hin: »Vladimir Illic Lenin liebte die Werke Kosma Prutkovs wegen ihrer treffenden Wendungen und Urteile sehr und wiederholte übrigens sehr häufig dessen berühmte Worte, daß ›niemand das Unerfaßliche umfasse‹ , wenn man zu ihm mit allen möglichen Projekten kam, insbesondere mit riesigen Bauvorhaben. Das Büchlein Prutkovs trug er nicht selten in der Hand, las darin die eine oder andere Seite- oft lag das Bändchen auch auf seinem Schreibtisch.« Dasselbe berichtet auch ein weiterer Zeitzeuge, V.A. Lesnickij. »Vladimir Illic Lenin kannte die Hinterlassenschaften Kosma Prutkovs gut«, heißt es bei ihm. »In seinem ihn täglichen Lebenskreise, umgeben von Freunden und Genossen, liebte er es, zu scherzen und zu lachen, gern gebrauchte er dann Aphorismen Prutkovs vom Schlage ›Gehe nicht am Abhang entlang - Du trittst Dir sonst die Stiefel krumm!‹« Die Urheber der häuslichen Ausgelassenheit Lenins hätten in seinem Arbeiter- und Bauernstaat aber vermutlich wenig zu lachen gehabt - sie entstammten allesamt begütertem russischen Uradel und bekleideten zeitweilig mittlere Ämter in den zaristischen Ministerien, wobei sie sich aufgrund ihrer Herkunft ein beachtliches Quantum an Extravaganzen leisten konnten.
Tolstoj, Sprößling einer kurzen Ehe, brachte die klassischen Etappen europäischer Geistesbildung hinter sich. Er reiste mit Mutter und Großvater in Westeuropa herum, saß als Neunjähriger 1826 bei einer Visite in Weimar sogar auf dem Schoß des alten Geheimrats persönlich. Der »Efron-Brockhaus«, die vielbändige russische Enzyklopädie der Jahrhundertwende, hebt seine »reckenhafte Gesundheit« und die Bärenkräfte, die ihn »Hufeisen mit bloßen Händen geradebiegen und Gabelzinken schraubenförmig mit den Fingern zusammendrehen« ließen, bewundernd hervor. 1836 erhielt er ein philologisches Diplom der Moskauer Universität. Kurzfristig diente er dann dem Herrscher aller Reußen als Diplomat in der russischen Mission in Frankfurt am Main; schon nach einem Jahr jedoch war er als Erbe der Titel und des Vermögens seines Großvaters steinreich und musste, bis auf eine kurze Episode in einem juristischen Untersuchungsausschuß, nicht mehr beruflich tätig werden.
 
Der Verlobungsring ist das erste Glied in der Kette des Ehelebens.
Niemand umfaßt das Unerfaßbare.
Das Gedächtnis ist ein Blatt weißen Papiers - bald wird es vom Menschen leserlich, bald unleserlich beschrieben.
Ein nachlassendes Gedächtnis ähnelt einem verlöschenden Öllämpchen.
Wenn Du schön sein willst, geh' zu den Husaren.
Ein verheirateter Taugenichts ähnelt einem Spatzen.
(aus »Früchte des Grübelns«)

Seine jüngeren Vettern, die Brüder Zemcuznikov, durchliefen ähnlich privilegierte Bildungsgänge, die Aleksej mit dem Posten des stellvertretenden Staatssekretärs im Staatsrat, Vladimir mit dem Posten eines Direktors der »Abteilung für allgemeine Angelegenheiten« im Verkehrsministerium krönten.
Die beiden Brüder gingen ihrer Beamtentätigkeit etwas regelmäßiger nach, Aleksej nahm sogar als Revisor an einigen der harschen Überprüfungen örtlicher Gebietsverwaltungen teil, deren bloße Ankündigung gefürchtet war und Gogol den Stoff für seine berühmte Komödie lieferte.
Alle drei waren aber trotz ihrer bevorzugten Stellung von den restriktiven Zuständen unter Zar Nikolaj I. angeekelt.
Um sich von ihrer öden Existenz als Untertanen des »Gendarmen Europas« abzulenken, verkehrten sie viel in den Winkeln und Nischen des Petersburger Hofes - geheimen Zirkeln und Gesellschaften, in denen Privataufführungen Rezitationen und Debatten über verbotenes ausländisches Gedankengut stattfanden, aber auch Scharaden, Schabernack und Inszenierungen selbstverfaßter Vaudevilles. Aleksej galt in diesen Kreisen ohnehin als umtriebiger Scherzbold und Imitator. Der Literaturhistoriker Buchstab überliefert aus dieser Zeit folgende Begebenheit:
Der Finanzminister Vroncenko ging täglich um neun Uhr am Schloßufer spazieren. Der dem Minister unbekannte Zemcuzikov fing an, jeden Morgen an ihm vorbeizugehen, den Hut zu ziehen und ihn mit dem Ruf: »Der Finanzminister ist die Triebfeder des Handelns!« zu begrüßen. Vroncenko beschwerte sich schließlich beim Polizeichef von Sankt Petersburg, und Zemcuzikov wurde bei Androhung und der Verbannung aus der Hauptstadt untersagt, den Minister weiter zu belästigen.
Eine abendliche Benefizveranstaltung bot ein Jahr später die Gelegenheit, den privaten Rahmen zu verlassen und statt Versen und kleinen Späßen etwas Abendfüllenderes zu machen. Dazu hatten die drei ein kleines Dramolett angefertigt das »Fantasia« hieß und am 8. Januar 1851 im Alexandrischen Theater in Sankt Petersburg zusammen mit anderen Komödien und Vaudevilles aufgeführt wurde. Chronist Buchstab resümiert:
»In dem Stück wurde banale Vaudeville-Situationen übertrieben und ad absurdum geführt. Sechs Freier, unter ihnen ein Deutscher, ein Grieche und ein Tatar, bemühen sich darum, die Hand Lisas zu erlangen, des Mündels einer reichen, aber egoistischen Greisin. Sowohl Lisas als auch ihr Vormund sind dem sentimentalen, schmeichlerischen Deutschen Liebental am meisten geneigt, doch plötzlich kommt ihnen der geliebte Mops der Alten, Fantasia, abhanden. Die Alte verspricht, ›aufgrund ihres grausamen Charakters‹, ihren Schützling demjenigen zur Braut, der den Hund wiederfindet. Die Freier schleppen Hunde aller Rassen, darunter auch ein Spielzeughund, herbei, aber Liebental, ein Deutscher ›nicht ohne Gewitztheit‹, kommt mit dem verlorengegangenen Mops angelaufen und erklärt sich zum Bräutigam, zum Mißfallen seiner Mitbewerber, welche unter Absingen von beleidigten Couplets das Haus verlassen. Die Szene leert sich, es bleibt nur ein Freier übrig, der obrigkeitshörige Verleumder Kutilo- Zavaldajskij. Er beschimpft den Autoren des Stückes, versicherte, dies sei der talentloseste Mensch überhaupt, eröffnet dem Publikum, daß das Stück völlig unanständig sei und welche Schauspieler den Souffleur zu häufig in Anspruch nehmen mußten; zuletzt fällt er über das Sujet des Stückes her und schlägt von sich aus eine Reihe von Themen vor, eines dümmer als das andere, das Orchester unterbricht seine Rede und er bemerkt, daß der Vorhang hinter ihm gefallen ist. Davon verwirrt, verbirgt er sich hinter ihm.«
  Bei der Uraufführung kam es zum Eklat. Zar Nikolaj I. erschien höchstpersönlich im Theater. Buchstab berichtet: »›Fantasia‹ erboste ihn, er ging, ohne das Stück bis zum Schluß angesehen zu haben und verbot im Weggehen, es erneut aufzuführen. Nach der Überlieferung soll er dabei zum Direktor des kaiserlichen Theaters, Gideonov, gesagt haben: ›Viel Schwachsinn habe ich bereits in meinem Leben mitansehen müssen, aber etwas Derartiges noch nicht!‹ Danach fing auch das Publikum an, zu buhen und zu zischen und fiel so auf die abschließende Täuschung herein, indem es den Monolog vor dem Vorhang als Improvisation des Schauspielers Martynov auffasste und ihn mit donnerdem Applaus belohnte.«
Nicht nur der Zar, selbst Fachleute mißverstanden das Ende des Stückes als persönliches Urteil des Schauspielers und gaben es - bis auf einen hellsichtigen Kritiker, der es als beißende Satire auf plumpen zeitgenössischen Unterhaltungsstücke begriff - in ihren Presseberichten auch so wieder.
Nachdem es im Blätterwald mächtig gerauscht hatte, verbrachten Tolstoj und Brüder Zemcuznikov - als Verfasser X und Y dem Publikum immer noch unbekannt - den Sommer auf dem Lande in dem Dorf Jelecka, das zu ihren Besitzungen gehörte. Dort wurden zum Zeitverteib gereimte Fabeln ersonnen, die so schöne Titel wie »Das Vergißmeinnicht und das Trittbrett«, »Der Reiher und die Renndroschke« oder »Der Kondukteur und die Tarantel« hatten. Beim Herstellen dieser Parodien kam das Trio allmählich auf die Idee, alle bisher entstandenen Werke dieser Machart samt »Fantasia« einem einzigen erfundenen Autoren zuzuschreiben.
Die drei genannten Fabeln waren das letzte, was noch ohne Namensnennung im Periodikum »Der Zeitgenosse« im November 1852 veröffentlicht wurde. 1853 schloß sich eine weitere Sommerfrische im Dorfe Jelecka an, zu dem Trio stieß jetzt noch ein weiterer Bruder der vielköpfigen Zemcuznikov-Sippe, Aleksandr. Irgendwann in diesem Sommer erfand man den Namen Kosma Prutkov und verfaßte nun auf der Stelle große Teile seines Werkes: ein weiteres kurzes Theaterstück, »Blondi« - eine Persiflage auf das Eheleben höchster Kreise, dazu Balladen, Aphorismen, Fabeln, Romanzen, Epigramme.

Ein Egoist ist wie ein Mensch, der lange in einem Brunnen gesessen hat.
Das Genie gleicht dem Hügel, der sich über die Ebene erhebt.
Kluge Worte sind gleichsam kursiv gedruckte Zeilen.
Der Tod wurde ans Ende des Lebens gesetzt, damit man sich bequemer auf ihn vorbereiten kann.
Klärende Ausdrücke erhellen dunkle Gedanken.
Keiner ergründet das Unergründliche.
Drei Dinge, einmal begonnen, sind schwer zu beenden:
a) Der Verzehr einer schmackhaften Mahlzeit,
b) Die Unterredung mit einem von langer Reise heimgekehrten Freunde,
c) Das Kratzen an der Stelle, wo es juckt. Bevor Du einen Menschen kennenlernst, bringe in Erfahrung: Ist seine Bekanntschaft anderen angenehm? Auch Terpentin ist zu etwas nütze!
Scherze nicht mit den Weibern; diese Scherze sind dumm und unpassend.

(aus »Früchte des Grübelns«)

  › ‹ »Der Zeitgenosse« druckt im Jahre 1854 fünfmal Werke Prutkovs in seiner humoristischen Beilage »Wirrwarr« - dann beginnt der Krimkrieg, und Kosma Prutkov schweigt fünf Jahre lang verbittert.
1856 fällt Sevastopol. Zar Nikolaj I. ergrimmt über diese Niederlage derart, daß er an einer an sich harmlosen Infektion vor Wut stirbt. Auch die Schöpfer Kosma Prutkovs fühlen sich nicht so wohl.
Kurz nacheinander lassen sich alle drei in den Ruhestand versetzen; der anfällige Graf Tolstoj kann nur noch in russischen Kurorten und den wärmeren Regionen Südfrankreichs und Italiens leben, die Brüder Zemcuznikov ziehen sich ebenfalls ins Ausland und auf ihre privaten Besitzungen zurück. Die von ihnen ausgeheckte Figur verselbständigt sich aber in teils ärgerlichen, teils erfreulichen Formen. In ärgerlichen, weil Kosma Prutkov immer häufiger in schlechten Witzblättern plagiiert wird. In erfreulichen, weil Dostojewskij 1859 eine Huldigung an den großen Dichter in seinem Roman »Das Gut Stepancikovo und seine Bewohner« einfügt - das Kapitel »Iljas Namenstag« ist größtenteils eine Rezitation seiner Romanze der »Belagerung von Pamba«.
1860 läßt der »Zeitgenosse« in seiner neuen satirischen Beilage »Pfiffe« Prutkov wieder aufleben: Zemcuznikov veröffentlicht jetzt überarbeitetes altes und von ihm und seinem Bruder neuverfaßtes Material aus Kosmas »Mußestunden«, die »Daunen und Federn« (Untertitel im Original deutsch), Aufzeichnungen von Kosmas Großvater und eben jene Gedanken- und Aphorismensammlung, deren Sentenzen in Rußland sprichwörtlich geworden sind: Die »Früchte des Grübelns«.
Doch drei Jahre später hat Aleksej Zemcuznikov für die Leser eine betrübliche Nachricht: Bereits am 13. Januar 1863 sei Kosma Prutkov heimgegangen - der Nekrolog ist unterzeichnet von seinem »Neffen« Kallistratos Serstobitov. Erstmals ist hier auch Persönliches über den teuren Verblichenen zu erfahren: Wirklicher Staatsrat und Ritter des St.-Stanislaus-Ordens sei er gewesen; vor allem aber Direktor des kaiserlichen Eichamts.
Als Grund gibt Aleksej Zemcuznikov später in einem Brief an, Prutkov habe sterben müssen, weil »wir an verschiedenen Orten lebten, nicht mehr so jung und fröhlich waren und nur noch selten zu dritt zusammenkamen«. Mitte 1884 erschienen erstmals die »Gesammelten Werke« Kosma Prutkovs und erlebten seitdem eine Auflage nach der anderen; die 1987 in der beliebten Taschenbuchreihe »Klassiker und Zeitgenossen« erschienene Ausgabe reklamiert allein für sich eine Auflage von 1.650.000 Exemplaren.
Bleibt also nur zu fragen: worüber lachen die Russen da? Über ein sehr buntes Gemisch aus Satire, Beamtenmief, hohlem Pathos und spezifisch russischer Hausbackenheit. Beliebt hat ihn aber bei den zitierfreudigen Russen vor allem die ironische Manier gemacht, Plattheiten oder absurden Nonsens mit möglichst mahnender oder belehrender Attitüde vorzubringen.
Vieles hat sich sehr frisch gehalten, zum Beispiel der Traum, der angeblich Kosma Prutkov während seiner Militärzeit veranlaßt haben soll, in die Dienste des Eichamts zu treten:
»In der Nacht vom 10. auf den 11.April 1823, als er von einem geselligen Umtrunk spät nach Hause kam und sich gerade auf seine Schlafpritsche hinlegte, sah er einen kahlen Brigadegeneral mit Epauletten vor sich, der ihn bei der Hand nahm und von seiner Lagerstatt zog. Er gestattete ihm nicht, sich anzuziehen, und zerrte ihn schweigend durch etliche lange und dunkle Gänge bis auf den Gipfel eines hohen und spitzen Berges. Dort begann er, unterschiedliche kostbare Stoffe aus einem Keller hervorzuholen, zeigte ihm einen nach dem anderen und legte ihn sogar ein paar um seinen durchgefrorenen Körper. Prutkov sehnte voller Angst und Verlegenheit die Erlösung aus dieser undurchschaubaren Lage herbei; plötzlich jedoch, nachdem er mit einem der kostbaren Stoffe berührt worden war, spürte er am ganzen Körper einen starken elektrischen Schlag, der ihn schweißgebadtet aufwachen ließ. Es ist nicht bekannt, welche Bedeutung Kosma Petrovic Prutkov dieser Vision beimaß. Wenn er später davon erzählte, und er tat dies oft, geriet er jedoch immer in große Aufregung und beendete seine Erzählung mit einem lauten Ausruf: ›Am selben Morgen, gleich nach dem Aufwachen, beschloß ich, das Regiment zu verlassen und reichte mein Abschiedsgesuch ein; als ihm stattgegeben wurde, trat ich sofort in die Dienste des Finanzamtes ein - ins Eichamt - wo ich auf immerdar bleiben werde!‹ Und tatsächlich: Nachdem er 1823 im Eichamt seinen Dienst begonnen hatte, blieb er dort bis zu seinem Tode, d.h. bis zum 13. Januar des Jahres 1863.«
Am stärksten aber waltet der Prutkov'sche Geist in den Gedanken und Aphorismen. In den »Früchten des Grübelns« irrlichtert der dichtende Beamte nach seinem Motto »Alles Menschliche ist mir fremd!« am furiosesten zwischen seiner Geistesblitze und -Bauchlandungen hin und her und wird dabei ununterbrochen fündig. Wenn Arnold Hau in seinem Gesetz für die Menschheit fordert: »Redet nicht alle durcheinander!«, so antwortet ihm sein Vorfahr aus dem Jenseits: »Sage lieber wenig, aber Gutes!«

Man soll fremde Füße nicht mit Elchleder beschuhen.
Der Mensch ist deswegen von unten und nicht von oben halbiert, weil zwei Stützen zuverlässiger sind als eine.
Falls Du auf einem Elefantenkäfig die Bezeichnung »Büffel« lesen solltest, so traue Deinen Augen nicht.
Jedes Ding ist eine Erscheinungsform der grenzenlosen Mannigfaltigkeit.
Der mit Sternen übersäte Nachthimmel ist der Brust eines hochverdienten Generals vergleichbar.
Manchmal reicht es, einen Menschen zu beschimpfen, um nicht von ihm betrogen zu werden.
Jedem scheint das Beste zu sein, wozu er Lust hat.
Wirfst Du Steine ins Wasser, so vertiefe Dich in die Kreise, die sich auf seiner Oberfläche bilden, sonst wird ein solches Werfen rasch zu einem leeren Zeitvertreib.
Bei manchen ruft das Schlittschuhlaufen Atemnot und Zittern hervor.
Ich wiederhole: Niemand umfaßt das Unerfaßbare!

(aus »Früchte des Grübelns«)

Wenn uns Lichtenberg in seinen Sudelbüchern einen Geistlichen überliefert, der Gott dafür lobte, den Tod an das Ende des Lebens zu plazieren, denn »was wäre unser Leben, andächtige Zuhörer, wenn er ihn zu Anfang gesetzt hätte?«, weiß Kosma Prutkov Gottes Weisheit noch anmutiger zu preisen: »Der Tod wurde ans Ende des Lebens gesetzt, damit man sich bequemer auf ihn vorbereiten kann.«
Gute Ratschläge (»Sei wachsam!«) wechseln mit subtilen Beobachtungen (»Ein emsiger Arzt erinnert an einen Pelikan«) und scheinbar harmlosen Lebensregeln wie »Nur im Staatsdienst erkennst Du die Wahrheit«.
Was Millionen Russen lieben, kennt - bis auf die meist wenig erläuterte Passage in Dostojevskijs Roman vom »Gut Stepancikovo und seinen Bewohnern« - leide bisher so gut wie kein deutscher Leser. Dabei ist ihnen zumindest Graf Tolstoj sehr entgegengekommen, der nicht nur Goethe ins Russische übertrug, sondern auch Nonsens-Gedichte in einem recht eigentümlichen Deutsch verfaßte. Unter dem Titel »Philosophische Frage« macht er sich z.B. ausführliche Gedanken darüber, ob sieben verschiedene Geschlechter besser wären als nur zwei:
Nämlich, wenn, ein Kind zu machen,
Sieben müßten sich vereinen,
Wäre dies ein Stoff zum Lachen
Oder wohl ein Stoff zum Weinen?
Nachdem er errechnet hat, daß derartige Lebewesen neunundvierzig Eltern um die Heiratserlaubnis ersuchen müssten, malt er sich den Anblick all jener Unglücklichen aus, die deshalb nicht miteinander ins Bett steigen können, weil ihnen dazu die siebte Person fehlt, und dankt den Schöpfer dafür, daß wir doch in der besten aller Welten leben:
Welcher Anblick! Nein, dem Himmel,
Mit emporgehob`nen Händen,
Dank ich, daß im Weltgetümmel
Er`s bei zweien ließ bewenden!
Auf die deutschen Leser wartet also noch eine interessante Bekanntschaft. Und ein erstmals von Prutkov wahrgenommene, erstaunliche Erkenntnis: »Das Lachen fortzusetzen ist leichter, als es zu beenden.«